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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Autoren: Sigrid Lenz
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kein Festtag für mich.“
    Marvin biss sich auf die Lippen. „Und Familie?“, rutschte es ihm heraus, noch bevor er sich bremsen konnte.
    Wieder zuckte Ian mit den Achseln. „Existiert nicht. Bis auf meinen Onkel sind alle gestorben, und der ist froh, wenn er von mir nichts hört oder sieht.“
    „Aber…“ Marvin errötete, peinlich berührt, dass er den anderen praktisch ausgefragt hatte.
    Ian legte seinen Kopf schief. „Ist schon okay“, meinte er, als habe er Marvins Gedanken gelesen. „Ich könnte dich dasselbe fragen.“
    Das Rot in Marvins Gesicht vertiefte sich.
    Ian grinste. „Ich tu’s aber nicht“, sagte er und richtete sich auf, schickte sich an, den Raum zu durchqueren und seinen eigenen Schlafplatz aufzusuchen.
    „Warte.“ Marvin beugte sich vor. „Wenn du…“
    Er wollte ihm mitteilen, dass es kein Problem für ihn darstellte, wenn der andere ihn ebenso ausfragen wollte, doch im letzten Moment besann er sich eines Besseren. Eigentlich wünschte er sich wirklich nicht, dass irgendjemand aus diesem Leben, über seine Vergangenheit Bescheid wusste. Die war abgeschlossen und beendet. Die Akten unter Verschluss. Watson hatte ihm versichert, dass niemand außer ihm Zugang zu Marvins richtigem Namen, zu seiner Geschichte und seiner Herkunft erhielte. Ohne Watson befände er sich immer noch in der aussichtslosen Situation, aus welcher der Mann ihn aufgelesen hatte.
    Und doch – manchmal – nur manchmal – fragte Marvin sich, ob er sich wirklich eine Verbesserung eingehandelt hatte, indem er sich damals in die Hände des ehemaligen Studienfreundes seines verhassten Vaters begeben hatte.
    Er biss sich auf die Zunge, kehrte in die Gegenwart zurück.
    „Wir… wir könnten doch… also, ich meine, wenn du sowieso auch hier bleibst…“
    Ian stand schon in der Tür, doch sah sich über die Schulter um. In seinen Augen glitzerte es belustigt.
    „Klar, Marvin. Warum nicht?“
    Marvin ließ sich erleichtert zurücksinken. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ein Lächeln, das vielleicht mehr dümmlich als selig wirken mochte. Aber das störte ihn nicht. In diesem Moment konnte er an nichts anderes denken, als an das Glitzern in Ians Blick und an die Möglichkeit mindestens drei Tage mit ihm zu verbringen. Mit ihm in seiner Nähe. Ohne dass ihn Trainer, Schleifer oder gehässige Kameraden ablenkten. Es genügte ihm, dass er Ian einfach besser kennenlernen konnte, dass er Gelegenheit bekam, sich mit ihm zu unterhalten, etwas über ihn zu erfahren. Hoffentlich viel mehr, als er bisher über ihn gelernt hatte.
    Das Camp war gähnend leer. Die eisige Kälte, der pfeifende Wind, der über Ausbildungsplätze, Gebäude und durch die dünnen Wände fuhr, befahlen den wenigen Posten, die das Los gezogen hatten, den Ort vor unliebsamen Besuchern zu schützen, sich innerhalb von mindestens vier Wände zurückzuziehen. Nicht dass es an dieser vergessenen Ecke der Welt etwas zu stehlen gäbe. Es hatte durchaus seinen Grund, das Ausbildungscamp fernab von jeder Zivilisation aufzuschlagen. Wurden dort doch Kräfte ausgebildet, die, bevor sie zur Anwendung gelangen konnten, an ihre Grenzen und darüber hinaus katapultiert wurden.
    Ohne Verletzungen, ohne Schmerzen, ohne dass eine Seele nach der anderen gebrochen wurde, ließ sich das gesetzte Ziel nicht erreichen. Und jede Form der Ablenkung, jede Form von Versuchung erschwerte das Vorhaben, Männer zu Soldaten zu formen, die weder Rücksicht, noch Erbarmen kannten. Die bereit waren, alles und jeden zu opfern, inklusive der eigenen Person, wenn es um das Große und Ganze ging, um das hehre und zugleich bedeutungslose Ziel, dem diese Einrichtung sich verschrieben hatte.
    ‚Leere Worte‘, dachte Marvin und wiederholte damit einen Gedanken, der ihn seit seinem Eintritt plagte. Er schlug seine Arme um den Körper im vergeblichen Versuch, sich zu wärmen. ‚Anscheinend ist es ihnen bei mir noch nicht gelungen. Anscheinend steht mir der Zusammenbruch noch bevor, oder auch das totale Versagen.‘
Dabei war die Entscheidung zu diesem Leben nicht von ungefähr gekommen, nicht schwergefallen. Sie war die natürliche Konsequenz seiner bisherigen Handlungen, der einzige Weg, der ihm geblieben war.
    Mit vor Kälte brennenden Augen verfolgte er die Atemwolke, die in der kalten Luft aufquoll, bevor sie langsam begann sich aufzulösen, ohne dass ihre Wärme an der Temperatur der Umgebung etwas änderte.
    Ian hatte er seit dem Vormittag nicht mehr gesehen. Als
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