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Ueber den Himmel hinaus - Roman

Ueber den Himmel hinaus - Roman

Titel: Ueber den Himmel hinaus - Roman
Autoren: Kimberley Freeman
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brachte damit ihren Palast zum Einsturz, was Natalja auf einen Schlag in die Wirklichkeit zurückholte. Ihre Wangen glühten.
    Der Mann baute sich vor ihnen auf, die haarigen Arme vor der Brust verschränkt. Natalja schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, mit dem sich die meisten Leute besänftigen ließen, doch in diesem Fall nützte es ihr nichts.
    »Ihr solltet euch schämen, alle drei. Ich werde dem Hausaufseher melden, dass ihr gegen die Hausregeln verstoßen und mit eurem Geschrei die Nachbarn gestört habt. Und jetzt geht nach Hause.«
    Lena brach in Tränen aus; Sofi band rasch die Laken los und legte sie zusammen.
    »Los, komm mit, Natalja«, sagte sie.

    Lena ergriff ihre Hand. »Natalja, darf ich jetzt die Kette haben?«
    Der Mann ließ sie nicht aus den Augen. »Gleich, Lena«, murmelte Natalja, nahm Sofi die Laken ab und klemmte sie sich unter den Arm. »Tante Stasja braucht bestimmt Hilfe beim Abendessen. Wir sollten gehen.«
    Doch kaum waren sie im düsteren Treppenhaus, kehrten ihre Gedanken zu ihrem Prinzessinnendasein zurück. Sie träumte von einem Leben ohne Haushaltspflichten, von Schmuck aus Edelsteinen statt Plastikperlen, von Palästen, die nicht von Parteifunktionären zum Einsturz gebracht werden konnten.
     
    Nach sieben Monaten wurde Natalja um eine Klasse zurückgestuft. Sie besuchte dieselbe Schule wie Sofi, und eines Nachmittags im Dezember stand sie verlegen in der Tür zu deren Klassenzimmer. Die Lehrerin setzte sie auf den Platz neben Sofi und erteilte dieser den Auftrag, ihrer Cousine beim Lernen zu helfen. Sofi hatte einerseits Mitleid mit Natalja, andererseits ärgerte sie sich. Natalja machte nie ihre Hausaufgaben. »Als Filmstar muss man nicht rechnen können«, argumentierte sie stets. Sofi gefiel es gar nicht, dass sie künftig für zwei lernen sollte. Doch dann dachte sie an ein Gespräch zwischen ihren Eltern, das sie kürzlich mitgehört hatte. Natalja sei schlicht unfähig, sich einer Sache dauerhaft zu widmen, hatte ihre Mutter gesagt. Sie sei zwar mit einem hübschen Gesicht, dafür aber auch mit einer Konzentrationsschwäche zur Welt gekommen, und ihre Eitelkeit sei auf ihre Unsicherheit zurückzuführen.
    Trotzdem war Sofi verstimmt, und auf dem Nachhauseweg störte sie sich an allem, was ihre Cousine sagte oder tat. Natalja war undankbar, stur und egoistisch. Sofi eilte
voraus, und als Lena und Natalja bei einem streunenden Hund am unbefestigten Ufer des Kanals stehen blieben, ging sie einfach weiter. Ha. Geschah den beiden ganz recht. Sie hatte einen Schlüssel, ihre Cousinen nicht. Sie würden den Hauswart bitten müssen, sie hereinzulassen, und der war ohnehin nicht gut auf sie zu sprechen, seit sich der rotgesichtige Mann über sie beschwert hatte.
    Sie betrat die dunkle Eingangshalle des Gebäudes, warf einen Blick in den - leeren - Briefkasten und stieg die schmale Treppe empor. Eine unangenehme Mischung aus Kochdünsten und Katzenurin hing in der Luft.
    Als sich Sofi ihrer Wohnungstür näherte, stellte sie fest, dass diese nur angelehnt war. Neugierig trat sie ein.
    Ein grobschlächtiger Mann mit Händen wie Baggerschaufeln erhob sich vom Sofa. Sofi blieb stehen. Hatte sie sich womöglich in der Tür geirrt? Nein. Da war der schwarze Lehnsessel mit dem Riss im Vinyl, dort die Lampe, die sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatten, und über dem Sofa hing das Gemälde vom Meer. Als sie den Kopf zur Seite wandte, um ganz sicherzugehen, dass sie sich in der richtigen Wohnung befand, sah sie durch die halb offen stehende Schlafzimmertür hindurch ihre Mutter, die reglos seitlich auf dem Bett lag. Warum war sie nicht in der Bäckerei? Sofis Herz tat einen Sprung. War sie tot?
    »Mama?«, rief sie.
    Der Mann nahm Sofi behutsam am Ellbogen und sah ihr in die Augen. Sein sanfter Blick bildete einen seltsamen Gegensatz zu seiner ernsten Stimme. »Lass. Deine Mutter ruht sich aus. Sie kommt gerade aus dem Krankenhaus.«
    »Aus dem Krankenhaus?«
    »Ich bin Wassili Iljitsch Gergjew, der Leiter der Baustelle, auf der dein Vater arbeitet.«

    Sofi brachte keinen Ton heraus. Etwas Furchtbares war geschehen. Sie umklammerte die Rücklehne des Sofas, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
    Im Hintergrund lief leise das Radio, in dem der Sprecher einen Rekordwinter ankündigte.
    »Dein Vater hatte einen Unfall«, sagte Wassili Iljitsch. »Er ist von einem hohen Gerüst gestürzt.«
    Das Blut rauschte in ihren Ohren. »Ist er tot?«
    Er wandte den Blick ab.
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