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Ueber Den Deister

Ueber Den Deister

Titel: Ueber Den Deister
Autoren: Wolfgang Teltscher
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löschten. Sie brauchten am nächsten Morgen nicht zeitig aufzustehen, wie es früher der Dienstplan der Kriminalpolizei vorgeschrieben hatte; manchmal schliefen sie länger, als es ihnen ihr schlechtes Gewissen erlauben wollte.
    Marder tastete nach der Hand seiner Frau unter der Bett decke und erzählte ihr von dem Anruf von Erich Falkenberg und dessen Anliegen.
    »Was meinst du?«, fragte er zum Schluss.
    »Natürlich meine ich, dass die Sache mit den Matuscheks dich nichts mehr angeht und du deinen Ruhestand genießen solltest. Aber das ist nicht, was du hören willst. Ich weiß, dass du dich aufmachen willst, um Vera Matuschek zu finden. Und wenn das so ist, dann sollst du es auch tun.«
    »Aber du kannst auch sagen, dass ich hierbleiben soll.«
    Marder legte Wert darauf, dass seine Frau merkte, dass ihre Meinung für ihn wichtig war.
    »Wahrscheinlich würdest du hierbleiben, wenn ich darauf bestünde, aber früher oder später, wenn wir uns einmal streiten, würdest du mir daraus einen Vorwurf machen. Das will ich lieber nicht riskieren. Die Entscheidung liegt also ganz bei dir.«
    »Das hast du schön gesagt, mein Schatz. Obwohl ich dir natürlich nie einen Vorwurf machen würde, und streiten tun wir uns sowieso nie. Warum weißt du eigentlich immer, was ich denke?«
    Marder drückte die Hand seiner Frau unter der Decke intensiver, drehte sich zu ihr und begann im gleichen Moment, sich in Gedanken mit seiner Reise nach Barsing-hausen zu beschäftigen.
    Als er am frühen Nachmittag des nächsten Tages die Hügel des Deisters erreichte und von der Autobahn nach Barsing-hausen abbog, war alles anders als bei seiner Ankunft vor zwei Jahren. Die Globalisierung der Wirtschaft hatte auch hier ihre ersten Spuren hinterlassen: Im Gewerbegebiet am Ortsanfang hatte sich ein internationales Unternehmen mit einem riesigen Logistikzentrum niedergelassen, dessen Äußeres von geraden Linien und grauen Flächen beherrscht wurde. In Richtung Bad Nenndorf war an der Ausfahrt ein gewaltiger Baumarkt auf einer Wiese entstanden.
    Selbst die Natur zeigte sich in einer anderen Verfassung. Die Felder waren damals braun und leer gewesen, die Wälder nackt, ohne Blätter, und an den Straßenrändern hatte verdorrtes Gras gestanden. Heute war alles heiter, grün, saftig. Darüber strahlte ein blauer Himmel. Die Hitzewelle der letzten Tage hatte noch nicht Zeit gehabt, die Böden oder die Pflanzen auszutrocknen. Während des Regens im Mai und Juni hatten sie genügend Wasserreserven gespeichert, um der plötzlich über das Land hereingebrochenen Trockenheit für eine Weile zu trotzen.
    Die Klimaanlage seines Autos keuchte leise gegen seine Knie, sie verrichtete Schwerstarbeit, als er am Hang des Deisters entlangfuhr. Draußen musste es zwischen fünfunddreißig und achtunddreißig Grad heiß sein. Er blickte über die Felder in die Norddeutsche Tiefebene, konnte die Kirchtürme der nächsten Dörfer jedoch nicht ausmachen. Die Hitze verdichtete sich zu einem Schleier, der die Sicht ins Land wie ein Vorhang versperrte. Das Getreide auf den Äckern war reif, bald würden die motorisierten Erntemonster kommen und mit ihren riesigen Messern alles niedermähen. Die Dörfer Bantorf und Hohenbostel, die zur Stadt Barsing-hausen gehören, dösten vor sich hin und nahmen keine Notiz von ihm, als er sie auf der Landstraße durchquerte.
    Die Pension »Marianne«, in der er vor zwei Jahren gewohnt hatte, lag im oberen Teil des Ortes, ein Stück den Hang hinauf, nahe am Wald. Er hatte sich dort zu Hause gefühlt. Die Wirtin, Frau Thann, umsorgte ihre Gäste wie eine Herbergsmutter und ließ sie spüren, dass sie in ihrem Heim willkommen waren. Als er vor dem Haus stand, fiel ihm auf, wie dicht es von Bäumen und Büschen umstanden war. Es lag im Schatten des Waldes – damals im November hatte das Grundstück offener ausgesehen. Das Gebäude im Jugendstil war seither neu gestrichen worden, es wirkte wie eine würdige Dame, die ihren guten Geschmack auch im Alter zeigt.
    Frau Thann begrüßte Marder an der Haustür. Er schaute sie verwundert an, sie kam ihm jünger vor, als er sie in Erinnerung hatte. Marder wollte keine plumpen Komplimente machen, gab ihr die Hand, sagte freundlich »Guten Tag« und dass er froh sei, wieder bei ihr wohnen zu dürfen. Frau Thann hatte seinen erstaunten Blick bemerkt und weihte ihn in ihr Geheimnis ein.
    »Ich habe mich tatsächlich verändert. Zahnärzte sind heutzutage wahre Zauberer. Erst nehmen sie einem die
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