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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen
Autoren: Marie Cristen
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das ritterliche Ideal vom Herrn, der die ihm anvertrauten Menschen schützte und versorgte, ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.
    Séverine zählte nicht zu den Leibeigenen, die es auch auf Faucheville gab, aber sie fühlte sich als Adriens Besitz. Sie gehörte ihm, sie diente ihm.
    Nie hatte sie über ihre Gefühle nachgedacht. Sie war sich ihrer sicher. An diesem Morgen jedoch geriet sie ins Grübeln. Adrien hatte etwas mit ihr vor. Er dachte über ihre Zukunft nach. Nur, in welche Richtung gingen seine Gedanken? Zum ersten Mal verspürte sie eine tiefe Unruhe.
    Das Jubeln einer Lerche, die auf der anderen Seite des Weges senkrecht aus dem hohen Gras stieg, riss sie aus ihren Betrachtungen. Sie sah dem Vogel nach, bewunderte sein Geschick und ließ sich nur zu gerne ablenken. Warum sich den Kopf über Dinge zerbrechen, die sie ohnehin nicht beeinflussen konnte?
    Dennoch musste sie auch an ihr Gespräch mit Elvire denken, das sie heute schon gehabt hatte.
    »Nimm dich in Acht, Séverine«, hatte sie gewarnt. »Der Seigneur scheint gewillt, das ganze Lehen auf den Kopf zu stellen. Er prüft die Bücher, gibt dem Vogt neue Anweisungen und kontrolliert vom Weinkeller bis hin zum Saatgut alle Vorräte. Vielleicht steht uns eine Hochzeit ins Haus, weil ihm gar so viel daran liegt, dass alles auf das Beste gerichtet ist.«
    »Eine Hochzeit?«, hatte sie gefragt.
    »Denk nach. Der Seigneur hat das dreißigste Lebensjahr überschritten. Es ist höchste Zeit, dass er sich eine Frau sucht, die ihm Söhne schenkt. Wenn das Lehen ohne Erben bleibt, fällt es nach seinem Tod in den Besitz des Königs zurück. Seit vor sieben Jahren seine Verlobte so unglücklich gestorben ist, war nie wieder von einer Hochzeit die Rede.«
    Adriens Braut war demselben Fieber zum Opfer gefallen, das auch das Leben seiner Mutter beendet hatte.
    »Er hat nichts davon gesagt, dass er eine Frau nehmen will.«
    »Das wird er dir nicht auf die Nase binden, Séverine. Solche Dinge werden bei Hofe entschieden. Da hat der König ein Wörtchen mitzureden und der Baron natürlich auch. Wirst schon sehen, dass ich recht habe.«
    Plötzliche Unruhe trieb Séverine vom Baum. Sie ging an den Karpfenteich, wo eine Entenmutter mit ihren Küken ihre Aufmerksamkeit fesselte. Als Adrien von der Jagd zurück an den Teich kam, hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden.
    Sie strahlte ihn an, als habe es die morgendliche Absage nie gegeben. Das Haar zerzaust, den Kittel an den Ärmeln nass und schmutzig, glich sie einem heiteren Waldgeist. In der gefältelten Schürze trug sie eine Kräutersammlung aus frischen Minzeblättern, Angelikawurzeln und Fenchelstengeln. Der würzige Duft umfing Adrien und verstärkte das gute Gefühl, das er bei ihrem Anblick empfand.
    »Was tust du hier so allein? Du solltest die Burg nicht ohne Begleitung verlassen«, rief er sie aus Pflichtbewusstsein dennoch zur Ordnung.
    »Weshalb nicht?« Mit einer höchst anmutigen Bewegung neigte sie den Kopf zur Seite und bedachte ihn mit einem selbstbewussten Blick. »Ich kenne die Wege und Wälder besser als deine Jäger.«
    »Aber es gehört sich nicht.« Da er selbst hörte, wie engstirnig und herrschsüchtig das klang, fügte er sanfter hinzu: »Du setzt deine Sicherheit aufs Spiel. Das Pfingstfest in Paris hat nicht nur den Adel des ganzen Landes, sondern auch Landstreicher und Galgenvögel angezogen. Nach dem Ende der Feiertage sind sie überall unterwegs.«
    »Ich könnte mich mit meinen Kräutern freikaufen.«
    »Du nimmst mich nicht ernst.«
    Ihr Lächeln sagte mehr als jeder Widerspruch, und Adrien fühlte sich wieder einmal geschlagen. Eine lange Zeitspanne herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann schaute sie ihn erwartungsvoll an. Er entdeckte nichts als Zuneigung in ihrem Blick. Grenzenloses Vertrauen. Durfte er sie wirklich aus dieser Welt herausreißen?
    Aber es geht doch um ihre Zukunft,
besänftigte er das eigene Gewissen. Viel zu lange schon hatte er sich darauf verlassen, dass sein Vater oder Loup sich um ihr Schicksal kümmerte.
Séverine verdient einen Fürsprecher.
    »Die Feierlichkeiten in Paris hätten dir gefallen«, setzte er die Unterhaltung fort. »Die Damen des Hofes gleichen in ihren bunten Kleidern den Frühlingsblumen. Sicher hast du dir schon einmal heimlich gewünscht, auch so schöne Kleider wie meine Mutter zu tragen.«
    »Nein. Warum?«
    Die Kürze ihrer Antwort entwaffnete ihn.
    »Frauen lieben schöne Kleider, Juwelen und prächtige Stoffe«,
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