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TS 76: Eine Handvoll Dunkelheit

TS 76: Eine Handvoll Dunkelheit

Titel: TS 76: Eine Handvoll Dunkelheit
Autoren: Philip K. Dick
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Jahrhundert.“ Er öffnete den Reißverschluß der Mappe. „Versuchen Sie doch, mich zu verstehen, Fleming. Indem ich mich an alltägliche Gegenstände meiner Forschungsperiode gewöhne, gewinne ich eine echte Beziehung dazu. Es ist Ihnen doch schon mehrmals aufgefallen, daß ich gewisse Wörter eigenartig betone. Das ist der Akzent der amerikanischen Geschäftsleute während der Präsidentschaft Kennedys. Kapiert?“
    „Was?“ murmelte Fleming.
    „Kapiert war ein Ausdruck aus dem zwanzigsten Jahrhundert.“ Miller legte seine Studierspulen auf den Schreibtisch. „Wollten Sie etwas Bestimmtes? Wenn nicht, fange ich meine heutige Arbeit an. Ich habe faszinierendes Beweismaterial ausfindig gemacht, das darauf hindeutet, daß die Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts zwar ihre Fußböden selbst legten, aber nicht ihre eigenen Kleider webten. Ich werde also meine Ausstellungsstücke verändern müssen.“
    „Es gibt doch niemanden, der fanatischer ist als ein Akademiker“, knurrte Fleming. „Sie sind zweihundert Jahre hinter Ihrer Zeit zurück, nichts anderes als Artefakte und Funde im Kopf.“
    „Ich liebe eben meine Arbeit“, antwortete Miller sanft.
    „Niemand beklagt sich über Ihre Arbeit. Aber es gibt noch andere Dinge als Arbeit. In dieser Gesellschaftsordnung hier sind sie eine politisch-soziale Einheit. Ich warne Sie, Miller! Der Aufsichtsrat weiß schon von Ihren ausgefallenen Ansichten. Man weiß zwar Hingabe zur Arbeit zu schätzen …“ Seine Augen verengten sich. „Aber Sie gehen zu weit.“
    „Meine erste Pflicht gilt meiner Kunst“, sagte Miller.
    „Ihrer was? Was heißt jetzt das wieder?“
    „Ein Ausdruck aus dem zwanzigsten Jahrhundert.“ Millers Stimme klang unverhohlen herablassend. „Sie sind nichts anderes als ein kleiner Bürokrat in einer großen Maschinerie. Sie sind eine Funktion einer unpersönlichen Massenkultur. Sie haben keinen eigenen Standard. Im zwanzigsten Jahrhundert hatten die Menschen noch einen persönlichen Standard. Handwerkliche Kunst. Stolz auf die eigene Leistung. Aber diese Worte bedeuten nichts für Sie. Sie haben keine Seele – wieder ein Begriff aus der goldenen Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Menschen noch frei waren und sagen durften, was sie dachten.“
    „Vorsichtig, Miller!“ Fleming sah sich nervös um und senkte die Stimme. „Ihr verdammten Wissenschaftler. Wacht doch einmal auf und erkennt die Wirklichkeit. Wenn ihr so redet, bringt ihr uns alle noch in Schwierigkeiten. Vergöttert doch die Vergangenheit, wenn es euch Spaß macht. Aber vergeßt nicht – sie ist begraben und vergessen. Die Zeiten ändern sich. Die Gesellschaft schreitet fort.“ Er deutete ungeduldig auf die verschiedenen Ausstellungsstücke. „Das sind nur unvollständige Kopien.“
    „Sie zweifeln an meiner Arbeit?“ Miller war wütend. „Diese Ausstellung ist absolut authentisch. Ich verbessere sie jedesmal, wenn mir neue Daten bekannt werden. Es gibt nichts, was mir über das zwanzigste Jahrhundert unbekannt wäre.“
    Fleming schüttelte den Kopf. „Es hat ja keinen Sinn.“ Er wandte sich ab und ging müde auf die Rampe zu.
    Miller rückte sich seinen Kragen und die grellbunte handgemalte Krawatte zurecht. Dann glättete er die Falten seines blauen Anzugs und zündete sich fachmännisch eine Pfeife zweihundertjährigen Tabaks an.
    Weshalb ließ Fleming ihn nur nicht in Frieden? Fleming, der bürokratische Vertreter jener großen Hierarchie, die den ganzen Planeten wie ein Netz einhüllte. Ah, die Freiheit des zwanzigsten Jahrhunderts! Er ließ sein Bandgerät etwas langsamer laufen, und seine Augen blickten verträumt. Die erregende Zeit des Individualismus, wo Menschen noch Menschen waren …
    Gerade in diesem Augenblick, wo er ganz in die Schönheit seiner Arbeit vertieft war, hörte er die unerklärlichen Geräusche. Sie kamen aus der Mitte seiner Ausstellung, aus dem komplizierten, sorgfältig regulierten Innern.
    Jemand war in seiner Ausstellung.
    Er konnte sie hören, ganz deutlich hören. Jemand oder etwas hatte die Sicherheitsbarriere passiert, die man aufgebaut hatte, um das Publikum fernzuhalten. Miller schaltete sein Bandgerät ab und stand langsam auf. Er zitterte am ganzen Leibe, als er vorsichtig auf die Ausstellung zuging. Er schaltete die Barriere ab und kletterte über das Geländer auf ein Betonpflaster. Ein paar neugierige Besucher blinzelten, als der kleine, eigenartig gekleidete Mann zwischen die authentischen Nachbauten des
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