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Tristan

Tristan

Titel: Tristan
Autoren: Martin Grzimek
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herabgeglitten, und in der Nähe des Waschtisches stand Elbeth und hielt etwas im Arm, auf das sie flüsternd einsprach.
    »Blancheflur?« Mehr als dieses Wort kam Rual nicht über die Lippen. »Tot«, seufzte Floräte und fügte hinzu: »Und Riwalin?«
     
    »Tot«, wiederholte Rual das Wort und schwieg. Es kam ihm vor, als hätte er einen Stein zum anderen gelegt. Mit einem der nächsten Atemzüge stieß er dann hervor: »Und das Kind?«
    »Ein Junge«, flüsterte Floräte, wie um es nicht aufzuwecken. »Ein König!«
    Rual wollte gerade auch diese Worte noch einmal mit Verwunderung sagen, da legte ihm Floräte schnell die Hand auf den Mund. »Still!«, zischelte sie. »Sei still. Der König ist tot und die Königin auch. Da darf ihr Sohn niemals geboren worden sein.«
    »Aber er lebt doch!« Rual sprach leise und wieder voller Verzweiflung. »Nein, noch lebt er nicht. Erst muss er ein zweites Mal zur Welt kommen.«
    »Was redest du da?« Rual starrte sie an. »Und wir werden seine Eltern sein!«
    Die Worte seiner Frau verwirrten Rual. Was sollte das heißen, das Kind müsse ein zweites Mal geboren werden? Er hörte leises Jammern im hinteren Teil des Raumes, hätte aber nicht sagen können, ob es von dem Säugling kam oder von Elbeth, die um ihre Herrin trauerte. Rual fasste sich. »Was soll das heißen: wir sind die Eltern?«
    »Es ist ganz einfach«, erwiderte Floräte. »Du lässt verbreiten, dass ich ein Kind erwarte, Ruhe brauche und in sechs Wochen niederkommen werde. In dieser Zeit bleibe ich hier in diesem Zimmer. Keiner hat Zutritt außer Elbeth und dir, keiner sieht mich, keiner weiß von dem Säugling. Inzwischen werden Riwalin und Blancheflur, die seinen Tod aus Kummer nicht überlebte, begraben, und nach sechs Wochen wird unser Sohn geboren. Man wird ihn schreien hören und ein paar Monate später auch sehen können, ein Winzling wie jedes andere Kind in diesem Alter. Niemand wird eine Frage stellen.«
    »Doch, man wird!«
    Floräte erstaunte über diese Widerrede und freute sich zugleich. Rual hatte sie verstanden. »Was für eine?«, fragte sie scheinbar neugierig. »Man wird wissen wollen, wie er heißt.«
    »Du hast recht.« Floräte stützte sich auf den Arm ihres Mannes. Plötzlich spürte sie die Anstrengungen der letzten Tage und Nächte, und auf ihre Schultern legte sich die Trauer über den Tod ihrer Herren wie ein Joch, an dessen Enden die seelenlosen Körper der beiden wie schwere Lasten baumelten.
    »Tristan«, sagte sie. »Wir werden ihn Tristan nennen, denn triste war der Beginn seines ersten Lebens, woran er sich in seinem zweiten erinnern soll sein Leben lang.«
    Da hellte sich Ruals Gesicht einen Augenblick lang auf. »Um Rache zu üben«, setzte er Florätes Satz fort, »Rache am Tode unseres Herrn und seiner Gemahlin, Rache an Morgan, dem Iren, dem Plünderer und Unterdrücker. Rache an der Ungerechtigkeit, Rache am Schicksal, Rache an der Vorsehung …«
    »Hör auf, Rual!«, unterbrach ihn Floräte. »Das sind genug der bösen Worte. Komm jetzt und sieh ihn dir erst einmal an, unseren Sohn Tristan.«
    So zog sie ihn mit sich fort, dorthin, wo Elbeth mit dem Säugling im Arm in der Nische am abgedunkelten Fenster saß.
     
    Traurige Tage ~6~ Glückliche Nächte
     
    Für Rual folgten nun die traurigsten Tage und zugleich die glücklichsten Nächte seines Lebens. Riwalin zu begraben und Blancheflur an dessen Seite, das brach ihm fast das Herz, wäre da nicht Tristan gewesen, den Floräte als ihr eigenes Kind angenommen hatte. Aber seinen Namen durften sie nur innerhalb der Kemenate nennen und nur vor Elbeth, denn Tristan gab es noch nicht. Floräte wollte keinen Augenblick missen, den sie zusammen mit dem Säugling verbrachte, doch musste sie seinetwegen ständig in dem abgeschlossenen Raum verbringen. Tag und Nacht waren ihr dann beinahe gleich, denn immer brannten die Kerzen und Öllämpchen, nie zeigte sie sich am offenen Fenster oder trat vor die Tür. Freude empfand sie nur in den Nächten, wenn Rual zu ihr kam, auch wenn schon fast der Morgen graute. Betrat Rual die Kammer, schien es in ihr gleich heller zu werden. Er selbst hatte ganz ähnlich das Gefühl, seine Frau würde von einem Licht der Freude umstrahlt. Tagsüber, da er nun als Statthalter des Königs den Amtsgeschäften nachging, Streit schlichtete und Recht sprach, seine Untertanen tröstete und danach sah, dass seine Ritter sich um ihre Pflichten kümmerten, konnte er seine Trauer über den Verlust seines Herrn
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