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Tristan

Tristan

Titel: Tristan
Autoren: Martin Grzimek
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müsste.
    Da flüsterte Rual in strengem Ton: »Musstest du ihr deswegen Gewalt antun, und vor allem: du selbst? Das hätte doch jemand anderer machen können. Mein Gott«, er stöhnte auf, »eine Königin vergreift sich doch nicht an ihren Vasallen!«
    »Ich bin keine Königin.«
    »Aber seit Blancheflurs Tod nimmst du ihre Stelle ein, versteh das doch. Du durftest so etwas nicht tun, niemals!«
    »Wenn ich es nicht getan hätte, wüsste der junge Herr schon jetzt, wer er in Wahrheit ist.«
    »Nicht so laut!«
    »Du bist laut.«
    In diesem Moment entstand in Tristan ein Gefühl, als würde ihm die angestaute Luft durch den Nacken in den Kopf entweichen und seine Augen und Ohren zum Zerplatzen bringen. Deshalb öffnete er schlagartig den Mund und fiel mit einem lauten Ächzen auf sein Lager. Er schloss die Augen und kniff sie dabei zusammen, weil ihn ein Schwindel ergriff. Gleich darauf wurde der Vorhang vor seiner Bettstatt zurückgeschlagen. »Tristan, was ist mit dir?«, hörte er Florätes Stimme.
    »Nichts ist«, sagte er und öffnete die Augen. Er sah die besorgten Gesichter seiner Eltern. »Ich«, sagte er, ohne weiterreden zu können. »Ich?«, wiederholten Floräte und Rual gleichzeitig. Tristan starrte seine Eltern an. »Hast du eben ich gesagt?« Rual flüsterte beinahe. »Ich«, sagte Tristan wieder und wollte sich erklären.
    Aber Floräte und Rual ließen ihm dazu keine Zeit. Ihre Gesichter verzogen sich zu einem Lachen, sie stießen freudige Rufe aus und umarmten sich. »Er hat ich gesagt«, wiederholten sie dabei, und all ihr Streit schien vergessen.
    »Das muss gefeiert werden«, sagte Rual. »Merla soll einen Hahn schlachten, einen dicken Hahn, den besten, den wir haben. Und ich gehe jetzt sofort in den Saal und schreibe in sein Buch: Heute hat Tristan, mein Sohn, zum ersten Mal ich gesagt.«
    Er ging, und auch Floräte verschwand, nachdem sie Tristan umarmt und an sich gedrückt hatte. Sie eilte zur Tür und rief dabei nach Merla. »Steh auf, mach Feuer, aber richtig, heute wird ein Hahn gebraten, der beste, der dickste, Tristan hat ich gesagt.«
     
    Der Befehl ~11 ~ Die Zunge
     
    »Ich« - dieses sonst wie selbstverständlich klingende Wort aus dem Mund eines kleinen Jungen hatte an diesem Tag einen magisch wirkenden Klang. Alle im Umkreis von Tristan, Floräte, Rual, die Mägde, die Wachleute, sie alle verspürten ein besonderes Gefühl, wenn sie »ich« sagten.
    Das Wundersame geschah genau an dem Tag, an dem Elbeth, Tristans Ziehamme, für immer verstummte, weil Floräte ihr die Zunge abgeschnitten hatte. So wie Elbeth ihr »Ich bin … ich heiße … ich habe« verlor, schien Tristan seinen Willen und sein Sagen entdeckt zu haben. Denn als Merla die Kemenate betrat, um Feuer zu machen, ließ er sie zu sich kommen. »Merla, komm her!«, rief er.
    Das junge Mädchen, eine entfernte Verwandte von Floräte, war erstaunt, als sie diesen Befehl aus dem Mund des Jungen hörte. Sie ging zu seinem Lager. Tristan zog sich gerade sein Hemd über und riss dabei an dem Stoff, als wäre ihm das Kleidungsstück zu eng geworden.
    »Ich möchte mit Elbeth sprechen!«
    letzt erschrak Merla und trat einen Schritt zurück. Auch sie hatte Tristan noch nie in der ersten Person sprechen hören.
    »Mein Herr«, sagte sie stockend, und Ehrfurcht klang in ihrer Stimme, »das geht nicht.« - Was sage ich da, durchfuhr es Merla, wieso nenne ich dieses Kind >mein Herr    »Warum soll das nicht gehen?«, rief Tristan aus mit zornigem Blick. »Wenn ich sage, dass ich Elbeth sehen will, dann hast du zu folgen. Ich befehle es dir. Bring sie her!«
    Merla wurde blass. Dieses dreimalige »Ich … ich … ich …« hallte in ihren Ohren nach wie ein Echo. »Ich kann Elbeth nicht holen«, sagte sie stotternd, »sie ist im Turm. Man sagt…« Merla stockte.
    »Was sagt man?«
    »Die Herrin soll ihr …«
    »Was soll die Herrin?« Tristan wurde ungeduldig und mürrisch wie ein unzufriedener Erwachsener.
    Merla wich einen weiteren Schritt zurück und setzte dann fast flüsternd den Satz fort: »… die Zunge abgeschnitten haben.«
    »Was?« Tristan legte die Hand an sein Ohr wie jemand, der schlecht hört, und schrie: »Ich verstehe dich nicht. Kannst du nicht lauter sprechen? Was soll die Herrin?«
    Nun verlor Merla die Fassung. Tränen traten ihr in die Augen, und wie bei einer Verzweifelten brach es nun aus ihr heraus: »Mein Gott, sie hat ihr die Zunge abgeschnitten!« Merla erschrak über ihre Heftigkeit, senkte den Kopf,
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