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Tricks

Tricks

Titel: Tricks
Autoren: Alice Munro
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sich eher Carla anzuschließen, und in dieser Anhänglichkeit zeigte sie sich plötzlich viel reifer, weniger verspielt, brachte sogar so etwas wie einen leisen und ironischen Sinn für Humor auf. Carlas Verhalten den Pferden gegenüber war sanft und zurechtweisend und eher mütterlich, aber ihre Beziehung zu Flora war ganz anders, denn Flora gestattete ihr kein Gefühl von Überlegenheit.
    »Immer noch keine Spur von Flora?«, fragte sie, als sie die Stallstiefel auszog. Clark hatte eine Anzeige »Ziege entlaufen« ins Internet gestellt.
    »Bis jetzt nicht«, sagte er, in geistesabwesendem, aber nicht unfreundlichem Ton. Er äußerte, nicht zum ersten Mal, die Ansicht, dass Flora vielleicht einfach fortgelaufen war, um sich einen Bock zu suchen.
    Kein Wort über Mrs. Jamieson. Carla setzte den Kessel auf. Clark summte vor sich hin, wie er es oft tat, wenn er am Computer saß.
    Manchmal gab er dem Gerät Antworten.
Bockmist
, sagte er zum Beispiel als Reaktion auf ein Problem. Oder er lachte – konnte sich aber nicht erinnern, was so komisch gewesen war, wenn sie ihn hinterher fragte.
    Carla rief: »Willst du Tee?«, und zu ihrer Überraschung stand er auf und kam in die Küche.
    »So«, sagte er. »So, Carla.«
    »Was ist?«
    »Sie hat angerufen.«
    »Wer?«
    »Ihre Majestät. Königin Sylvia. Sie ist gerade zurückgekommen.«
    »Ich hab das Auto gar nicht gehört.«
    »Ich hab dich nicht gefragt, ob du's gehört hast.«
    »Also weshalb hat sie angerufen?«
    »Sie will, dass du kommst und ihr hilfst, das Haus in Ordnung zu bringen. Hat sie jedenfalls gesagt. Morgen.«
    »Was hast du ihr gesagt?«
    »Ich hab ihr gesagt, geht klar. Aber du rufst besser an und bestätigst es.«
    Carla sagte: »Ich sehe gar nicht ein, wieso, wenn du schon zugesagt hast.« Sie goss Tee in beide Becher. »Ich habe ihr Haus direkt vor ihrer Abreise geputzt. Ich weiß nicht, was da so bald zu tun sein soll.«
    »Vielleicht sind Waschbären ins Haus gelangt und haben alles auf den Kopf gestellt. Man kann nie wissen.«
    »Ich brauche sie nicht jetzt sofort anzurufen«, sagte sie. »Ich will meinen Tee trinken und ich will unter die Dusche.«
    »Je eher, desto besser.«
    Carla nahm ihren Tee mit ins Badezimmer und rief ihm zu: »Wir müssen in den Waschsalon. Selbst wenn sie trocken werden, riechen die Handtücher muffig.«
    »Nicht das Thema wechseln, Carla.«
    Sogar nachdem sie unter die Dusche gegangen war, stand er draußen vor der Tür und redete laut auf sie ein.
    »So kommst du mir nicht davon, Carla.«
    Sie befürchtete schon, dass er immer noch draußen stand, als sie herauskam, aber er saß wieder am Computer. Sie zog sich an, als wollte sie in die Stadt – sie hoffte, wenn sie erst einmal hier herauskamen, in den Waschsalon gingen, sich etwas aus dem Cappucino-Laden holten, dann konnten sie vielleicht anders miteinander reden, dann war eine Lockerung möglich. Sie ging mit federnden Schritten ins Wohnzimmer und legte von hinten die Arme um ihn. Aber sowie sie das tat, wurde sie von Kummer überwältigt – es lag bestimmt am heißen Wasser der Dusche, das musste ihre Tränen gelöst haben –, und sie beugte sich über ihn, ein schluchzendes Häufchen Elend.
    Er nahm die Hände von der Tastatur, saß aber still.
    »Sei doch nicht gleich wütend auf mich«, sagte sie.
    »Ich bin nicht wütend. Ich hasse es nur, wenn du so bist, weiter nichts.«
    »Ich bin so, weil du wütend bist.«
    »Sag mir nicht, was ich bin. Du erwürgst mich. Mach jetzt das Abendessen.«
    Und das tat sie dann. Inzwischen war klar, dass der Fünf-Uhr-Schüler nicht kam. Sie holte die Kartoffeln heraus und fing an, sie zu schälen, aber ihre Tränen wollten nicht aufhören, und sie konnte nicht sehen, was sie tat. Sie wischte sich das Gesicht mit Küchenkrepp, riss sich noch ein Stück zum Mitnehmen ab und ging in den Regen hinaus. Sie ging nicht in den Stall, weil es da drin ohne Flora zu traurig war. Sie nahm den Feldweg, der zum Wald führte. Die Pferde waren auf der anderen Weide. Sie kamen an den Zaun, um sie zu beobachten. Alle bis auf Lizzie, die ein bisschen herumsprang und schnaubte, brachten Sinn dafür auf, dass sie mit anderem beschäftigt war.
    *
    Angefangen hatte es, als sie den Nachruf lasen, den Nachruf auf Mr. Jamieson. Der stand im Stadtanzeiger, und in den Abendnachrichten kam ein Foto von ihm. Bis vor einem Jahr hatten sie die Jamiesons nur als Nachbarn gekannt, die für sich blieben. Sie lehrte Botanik an einem vierzig Meilen entfernten
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