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Traumschlange

Titel: Traumschlange
Autoren: Vonda N. McIntyre
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sich still ins Fäustchen gelacht und dann etwas Ruhe gegönnt, einen anständigen Genesungsschlaf. Doch statt dessen wandte sie sich nach rechts und umrundete die Anhöhe in der Hoffnung, daß der lange Stollen sie nicht um deren halben Umfang oder den halben Umfang der Kuppel von Norths Aufenthaltsort weggeführt hatte. Sie wünschte, North oder der Verrückte hätten sich irgendwie darüber geäußert, wo Melissa steckte.
    Urplötzlich endete der Hain. Beinahe hätte Schlange die Lichtung betreten, doch im letzten Moment blieb sie stehen und wich in die Schatten zurück. Rotblatt bedeckte die Wiese mit einem dicken, dichten Teppich von scharlachroter Farbe. Auf dieser natürlichen Matte lagen sämtliche Leute, die Schlange zuvor in Norths Gesellschaft gesehen hatte, und noch mehr. Alle schliefen sie; Schlange nahm an, daß sie unter dem Einfluß von Traumschlangengift träumten. Die Mehrzahl lag auf dem Rücken, den Kopf zurückgeworfen, die Kehle entblößt; alle wiesen zwischen einer Vielfalt alter Bißnarben frische Bisse auf, an denen dünne Rinnsale getrockneten Blutes klebten. Schlange betrachtete jede einzelne Person, kannte jedoch keine; erst auf der anderen Seite der Lichtung sah sie den Verrückten im Schatten eines außerirdischen Baumes schlafen. Die Stellung, in der er dort lag, unterschied sich von denen der anderen; er ruhte auf dem Gesicht, bis zur Hüfte nackt, und die Arme waren vor ihm ausgestreckt wie in demütigem Bitten. Seine Füße und Waden waren entblößt. Als Schlange sich ihm am Rand der Lichtung näherte, sah sie die zahlreichen Bisse an den Innenseiten der Arme und in den Kniekehlen. Also hatte North noch eine Schlange mit einem Giftvorrat gefunden, und der, Verrückte hatte endlich bekommen, was er wollte.
    Aber North war nicht auf der Lichtung, und auch Melissa befand sich nicht dort. Ein häufig benutzter Trampelpfad führte an einer anderen Stelle zurück in das Wäldchen. Vorsichtig folgte Schlange seinem Verlauf, jederzeit dazu bereit, zur Seite zwischen die Bäume zu huschen, sollte sich Gefahr abzeichnen. Aber nichts geschah. Während sie barfuß über das festgetrampelte Erdreich stampfte, hörte sie aus dem Laub sogar das Rascheln kleiner Tiere, von Vögeln oder unbeschreiblich fremdartigem Getier. Der Trampelpfad endete unmittelbar oberhalb des Eingangs zum Stollen, durch den man Schlange in den künstlichen Krater gebracht hatte. Dort saß, allein, neben einem großen Korb, North, in den Händen eine Traumschlange. Verwundert beobachtete Schlange ihn. Er hielt die Schlange auf die sichere Art, hinter dem Kopf, so daß sie nicht zubeißen konnte. Mit der anderen Hand streichelte er ihre geschmeidigen grünen Schuppen. Schlange war bereits aufgefallen, daß North am Hals keinerlei Male trug; sie war davon ausgegangen, daß er für sich die langsamere, angenehmere Weise der Giftzufuhr vorzog.
    Doch die Ärmel seines Gewandes waren auf seine Ellbogen gerutscht, und daher erkannte sie nun zweifelsfrei, daß auch seine bleichen Arme keine Narben besaßen. Schlange schnitt eine finstere Miene. Melissa war nirgends zu sehen. Falls North sie irgendwo in den Höhlen versteckte, konnte Schlange womöglich tagelang nach ihr suchen, ohne sie zu finden. Sie verfügte nicht über genügend Kräfte für eine langwierige Suche. Sie trat hinaus auf die Lichtung.
    »Warum läßt du dich nicht auch einmal beißen?« meinte sie. North zuckte mit einem heftigen Ruck zusammen, behielt jedoch die Schlange in der Gewalt. Er starrte Schlange mit dem Ausdruck purer Verwirrung an. Hastig ließ er seinen Blick rundum über die Lichtung schweifen, als bemerke er zum ersten Mal, daß seine Anhänger nicht bei ihm weilten.
    »Sie schlafen alle, North«, sagte Schlange. »Sie träumen. Auch jener, der mich hergebracht hat. «
    »Hierher!« brüllte North, aber weder gehorchte Schlange seinem Befehlston, noch antwortete ihm irgend jemand. »Wie bist du herausgekommen?« flüsterte North. »Ich habe schon andere Heiler getötet. Sie waren keine Magier. Sie waren ebenso leicht umzubringen wie andere Lebewesen.«
    »Wo ist Melissa?«
    »Wie bist du herausgekommen?« schrie er.
    Schlange ging auf ihn zu, ohne selbst überhaupt zu wissen, was sie tun sollte. Gewiß, North war bestimmt nicht stark, aber im Sitzen genauso groß wie Schlange im Stehen, und sie war gegenwärtig alles andere als im Vollbesitz ihrer Kräfte. Vor ihm blieb sie stehen. North streckte ihr die Traumschlange entgegen, als könne er sie
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