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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition)
Autoren: Khaled Hosseini
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eine Klaue begann, sich mit festem Griff um seine Kehle zu schließen. Er wusste nicht mehr, wie oft oder wie lange er nach seinem Vater gerufen hatte, doch er erhielt keine Antwort aus dem Dunkel. Er sah Fratzen, versteckt in den aus der Erde aufragenden Bergen, die boshaft auf Pari und ihn hinabgrinsten. Er wurde von einer Panik gepackt, die seinen ganzen Körper erfasste. Er begann zu zittern und halblaut zu wimmern. Er hatte das Gefühl, gleich schreien zu müssen.
    Da hörte er Schritte. Eine Gestalt schälte sich aus der Finsternis.
    »Ich dachte schon, du wärst verschwunden«, sagte Abdullah mit bebender Stimme.
    Sein Vater setzte sich vor die schwelende Glut des Feuers.
    »Wo bist du gewesen?«
    »Schlaf weiter, mein Junge.«
    »Du würdest uns nicht verlassen. Das würdest du nicht tun, Vater.«
    Sein Vater wandte ihm das Gesicht zu, doch es war so finster, dass Abdullah seine Miene nicht erkennen konnte. »Wenn du so weitermachst, weckst du noch deine Schwester.«
    »Verlass uns nicht.«
    »Genug jetzt.«
    Abdullah legte sich wieder hin, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er schloss seine Schwester fest in seine Arme.
    * * *
    Abdullah war noch nie in Kabul gewesen. Er kannte die Stadt nur aus Onkel Nabis Erzählungen. Er war in einigen Kleinstädten gewesen, in denen sein Vater gearbeitet hatte, aber niemals in einer richtigen Stadt, und das, was Onkel Nabi zu berichten wusste, hatte ihn in keiner Weise auf das Gewirr und Gewimmel der größten und geschäftigsten aller Städte vorbereiten können. Er erblickte überall Ampeln und Teehäuser, Restaurants und Geschäfte mit großen Schaufenstern und leuchtend bunten Schildern. Autos knatterten durch das Gedränge auf den Straßen, hupten und sausten haarscharf an Bussen, Fahrradfahrern und Fußgängern vorbei. Von Pferden gezogene garis fuhren mit Gebimmel auf den Boulevards auf und ab, ihre mit Eisen beschlagenen Räder holperten über die Straße. Die Bürgersteige, auf denen er mit Pari und seinem Vater ging, wimmelten von Zigaretten- und Kaugummiverkäufern, von Zeitschriftenständen und Hufschmieden, die auf Hufeisen einschlugen. Auf den Kreuzungen bliesen Polizisten in schlecht sitzenden Uniformen in ihre Trillerpfeife und schwenkten gebieterisch die Arme, ohne dass sich jemand darum gekümmert hätte.
    Abdullah setzte sich vor einem Fleischerladen auf eine Bank, Pari auf dem Schoß, und sie aßen von einem Blechteller ein Gericht aus weißen Bohnen und Koriander-Chutney, das ihr Vater bei einem Straßenhändler gekauft hatte.
    »Sieh mal, Abollah«, sagte Pari und deutete auf einen Laden auf der anderen Straßenseite, in dessen Schaufenster eine junge Frau in einem wunderschön bestickten, grünen Kleid mit kleinen Spiegeln und Perlen stand. Die Frau trug einen langen, zum Kleid passenden Schal, Silberschmuck und eine dunkelrote Hose. Sie stand reglos da und blickte die Passanten an, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie regte keinen Finger, während Abdullah und Pari ihre Bohnen futterten, und stand auch danach immer noch stocksteif da. Abdullah entdeckte weiter hinten ein riesiges, vor der Fassade eines hohen Gebäudes hängendes Plakat. Es zeigte eine junge und hübsche, in einem Platzregen mitten zwischen Tulpen stehende Inderin, die sich spielerisch vor einen Bungalow duckte. Sie lächelte scheu, und ihr durchnässter Sari zeichnete die Kurven ihres Körpers nach. Abdullah fragte sich, ob sich in dem Gebäude ein von Onkel Nabi so genanntes »Kino« befand, das die Menschen besuchten, um Filme zu gucken, und er hoffte, dass sein Onkel ihn und Pari im Laufe des nächsten Monats einmal mit in einen Film nehmen würde. Bei diesem Gedanken musste er grinsen.
    Kurz nach dem Gebetsruf, der aus einer blaugekachelten Moschee weiter oben in der Straße erschallte, hielt Onkel Nabis Auto vor der Bordsteinkante. Er trug den olivfarbenen Anzug, und als er sich vom Fahrersitz schwingen wollte, entging ein junger Fahrradfahrer im chapan der aufschwingenden Tür nur um Haaresbreite.
    Onkel Nabi eilte um das Auto herum und umarmte Abdullahs Vater. Beim Anblick Abdullahs und Paris grinste er breit und beugte sich zu den beiden hinab.
    »Na, wie gefällt euch Kabul, Kinder?«
    »Ganz schön laut«, antwortete Pari, und Onkel Nabi lachte.
    »Das stimmt. Na los, steigt ein. Im Auto seht ihr noch viel mehr von der Stadt. Aber wischt vor dem Einsteigen eure Füße ab. Saboor, du sitzt vorne.«
    Die Rückbank war kühl und fest und, passend zum Inneren des Autos,
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