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Transparenzgesellschaft

Transparenzgesellschaft

Titel: Transparenzgesellschaft
Autoren: Byung-Chul Han
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Straßenkleidung und Theaterkostüm. Auch Masken kamen in Mode. Menschen waren regelrecht verliebt in Szenen, sie gaben sich szenischen Illusionen hin. Haartrachten der Damen (pouf) wurden zu Szenen gestaltet, die entweder historische Ereignisse (pouf à la circon stance) oder Gefühle darstellten {pouf au sentiment). Zur Darstellung von Szenen wurden auch Porzellanfiguren ins Haar eingeflochten. Man trug einen ganzen Garten oder ein Schiff mit vollen Segeln auf dem Kopf. Frauen wie Männer bemalten Teile ihres Gesichtes mit roter Schminke. Das Gesicht selbst wurde zu einer Bühne, auf der man bestimmte Charaktereigenschaften mit Hilfe von Schönheitspflästerchen (mouche) zur Darstellung brachte. Wurde es etwa am Augenwinkel angebracht, so bedeutete es Leidenschaft. Platziert auf der Unterlippe wies es auf die Direktheit der Trägerin hin. Auch der Körper war ein Ort szenischer Darstellung. Dabei ging es nicht darum, das verborgene »Innen« (l'intérieur), ja das »Herz«, unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr galt es, mit dem Schein, mit szenischen Illusionen zu spielen. Der Körper war eine Kleiderpuppe ohne Seele, die zu drapieren, zu schmücken, mit Zeichen und Bedeutungen auszustaffieren war.
     
    Jenem Spiel mit Masken und Rollen setzt Rousseau seinen Diskurs des Herzens und der Wahrheit entgegen. So kritisiert er vehement den Plan, in Genf ein Theater zu errichten. Das Theater sei eine »Kunst, sich zu verstellen, einen anderen als den eigenen Charakter anzunehmen, anders zu erscheinen, als man ist, kaltblütig sich zu erregen, etwas anderes zu sagen, als man denkt, und das so natürlich, als ob man es wirklich dächte, und endlich seine eigene Lage dadurch zu vergessen, daß man sich in die eines anderen versetzt.« 87 Verworfen wird das Theater als ein Ort der Verstellung, des Scheins und der Verführung, dem jede Transparenz fehlt. Der Ausdruck darf keine Pose, sondern muss eine Widerspiegelung des transparenten Herzens sein.
     
    Schon bei Rousseau lässt sich beobachten, dass die Moral totaler Transparenz notwendig in Tyrannei umschlägt. Zur Gewalt führt das heroische Projekt der Transparenz, alle Schleier zerreißen, alles ans Licht bringen, jedes Dunkel vertreiben zu wollen. Schon das Verbot des Theaters und der Mimesis, das bereits Platon für seinen Idealstaat verordnete, verleiht der Rousseauschen Transparenzgesellschaft totalitäre Züge. Rousseau bevorzugt deshalb kleinere Städte, weil dort »jeder einzelne, immer unter den Augen der Öffentlichkeit, der geborene Sittenrichter des anderen ist« und »die Polizei eine leichte Aufsicht über alle hat«. 88 Rousseaus Transparenzgesellschaft erweist sich als eine Gesellschaft totaler Kontrolle und Überwachung. Seine Forderung nach Transparenz verschärft sich zu dem kategorischen Imperativ: »Ein einziges Gebot der Sittenlehre kann aller andern Stelle vertreten, dieses nämlich: Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte. Ich meinerseits habe stets jenen Römer als den hochachtungswürdigsten Mann betrachtet, der wünschte, sein Haus werde so gebaut, daß man alles, was darin vorginge, sehen könnte.« 89
     
    Rousseaus Forderung nach Transparenz des Herzens ist ein moralischer Imperativ. Der Römer mit seinem durchsichtigen Haus folgt auch einer moralischen Maxime, nämlich dem »Gebot der Sittenlehre«. Das »heile Haus mit Dach, Mauer, Fenster und Tür« ist heute ohnehin »durchlöchert« von »materiellen und immateriellen Kabeln«. Es zerfällt zu einer »Ruine, durch deren Risse der Wind der Kommunikation bläst«. 90 Der digitale Wind der Kommunikation und Information durchdringt alles und macht alles durchsichtig. Er weht durch die Transparenzgesellschaft. Das digitale Netz als Medium der Transparenz ist aber keinem moralischen Imperativ unterworfen. Es ist gleichsam ohne Herz, das traditionell ein theologisch-metaphyisches Medium der Wahrheit gewesen ist. Die digitale Transparenz ist nicht kardio-, sondern pornografisch. Sie bringt auch ökonomische Panoptiken hervor. Es wird keine moralische Läuterung des Herzens, sondern maximaler Profit, maximale Aufmerksamkeit angestrebt. Die Ausleuchtung verspricht nämlich eine maximale Ausbeute.

KONTROLLGESELLSCHAFT
    »Wir erleben das Ende des perspektivischen Raumes und des Panoptikums«, schreibt Baudrillard 1978 in »Agonie des Realen«.' 1 Baudrillard entwickelt seine Thesen noch ausgehend vom Medium Fernsehen: »Das Fernsehauge ist nicht mehr
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