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Tränen des Mondes

Tränen des Mondes

Titel: Tränen des Mondes
Autoren: Di Morrissey
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uns ein Täßchen Tee gekocht. Ich brauche jetzt einfach eine kleine Stärkung und wollte nicht warten, bis ich wieder zu Hause bin.« Es war Muriel, die überschwengliche, ältliche Archivarin.
    Lily tupfte sich rasch die Augen trocken und rang sich ein Lächeln ab, als sie die Tasse entgegennahm. »Sie sind ein Schatz, Muriel. Sie haben keine Ahnung, wie nötig ich das in diesem Augenblick habe.«
    Muriel setzte sich in einen der Sessel, die zur Ausstellung gehörten. »Fertig mit Schmökern?« fragte sie und trank einen Schluck.
    »Ja. Es war fast ein bißchen zuviel für mich, fürchte ich.«
    Mit einem leisen Murmeln gab Muriel zu verstehen, daß sie keineswegs überrascht war.
    »Viele Leute entdecken mehr, als sie erwartet haben. Oft nicht nur willkommene Dinge. Wie steht's mit Ihnen? Kommt mir vor, als wären Sie ein bißchen traurig.«
    Lily nickte.
    »Möchten Sie es sich gern von der Seele reden?«
    »Nicht jetzt, Muriel, aber vielen Dank. Ich muß jetzt einfach viel nachdenken.«
    Obwohl Muriel vor Neugier platzte, hatte sie ein feines Gespür dafür, wie sehr es einen Menschen aufwühlen konnte, wenn er sich in die eigene Familiengeschichte vertiefte. Taktvoll wechselte sie das Thema. »Jetzt werden Sie sicher gleich zurück in den Süden flitzen, nachdem Sie Ihre Lektüre beendet haben. Wenigstens hatten Sie wunderbares Wetter hier.«
    Lily war dankbar. »Jeder Tag war ein Juwel.« Sie kicherte leise über die hintersinnige Bedeutung ihrer Antwort. »Nein, ich werde wohl noch ein paar Tage bleiben. Ich muß noch die eine oder andere Kleinigkeit klären.«
    Muriel stand auf und schob Olivias Tagebuch in ein Regal. »Eines Tages möchte ich die Tagebücher gern selbst lesen. Bin nie über die ersten Seiten hinausgekommen. Es gibt immer zuviel Arbeit und nie genug Zeit, um die Schätze, die wir hier haben, richtig zu würdigen.« Sie nahm die leeren Tassen. »In ein paar Minuten treffen wir uns an der Tür, ja?«
    Lily ließ ihren Blick durch den Raum wandern und ging dann umher, strich behutsam über die Möbel und stellte sich vor, daß sie einmal im Haus von Olivia und John gestanden hatten. Sie hatten in diesen Sesseln gesessen, sich auf dieser Chaiselongue entspannt, dieses Porzellan benutzt, auf diese Uhr geschaut. Schließlich trat Lily wie am Ende eines jeden Tages, seitdem sie dieses Zimmer zum ersten Mal betreten hatte, vor das große Porträt John Tyndalls. Seine Augen lächelten ihr zu, doch diesmal bildete sie sich ein, in ihnen mehr Zuneigung und ein amüsiertes Funkeln zu entdecken. »Na, Urgroßvater«, sagte sie leise. »Du fragst dich wohl, wie ich mit der Geschichte fertig werde?« Sie lächelte ihm wehmütig zu. »Das frage ich mich auch.«
    Sie nahm ihre Handtasche und ihr Notizbuch, wandte sich aber an der Tür noch einmal zu dem Gemälde um. »Als erstes werd ich mir mal einen kräftigen Drink in der Logger-Bar genehmigen«, sagte sie, zwinkerte ihm zu und schloß leise die Tür.
     
    Am nächsten Morgen rief Lily die schwarze Malerin Rosie Wallangou an, die sie kurz nach ihrer Ankunft bei ihrer Ausstellung im Cable Beach Club kennengelernt hatte.
    »Rosie, hier Lily Barton. Wir haben uns bei Ihrer Ausstellung gesehen. Ich bin aus Sydney, erinnern Sie sich?«
    »Selbstverständlich. Sie haben hier doch etwas gesucht. Und? Glück gehabt?«
    »Kann man wohl sagen. Die ›Tränen des Mondes‹ haben jetzt eine ganz neue Bedeutung für mich.«
    Am anderen Ende herrschte Schweigen.
    »Rosie …?«
    »Entschuldigen Sie. Ich war nur etwas überrascht. Haben Sie Lust vorbeizukommen, damit wir uns ein bißchen unterhalten können?«
    »Liebend gern.«
    Rosie gab ihr eine Wegbeschreibung, die Lily in ihr Notizbuch kritzelte. »Kommen Sie doch zu Fuß, Lily. Es ist nicht so weit, daß Sie ein Taxi nehmen müssen.«
     
    Lily ging durch die Stadt und betrachtete die Gebäude, die Straßen und den Kai mit ganz neuen Augen. Überall wurde für sie die Vergangenheit lebendig. Hinter den sauberen Straßen, modernen Läden und den bummelnden Touristen erstand vor ihr das Broome ihres Urgroßvaters. Es gab tatsächlich noch Reste davon, manches war liebevoll restauriert oder nachgebaut, einiges hatten die Jahrzehnte mit Rost überzogen – die alte Pferdebahn, den Dekompressionszylinder, die gesprungenen Eisengitter um die Gräber herum. Anderes war frisch gestrichen – das
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