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Totgeschwiegen

Totgeschwiegen

Titel: Totgeschwiegen
Autoren: Brenda Novak
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entspannte sich, als sie merkte, dass ihre Mutter sich über das Kompliment freute. Sie war etwas kleiner als ihre Tochter, hatte aber die gleiche ovale Gesichtsform und ebenso blaue Augen. Grace trug ihre schwarzen Haare gern zu einem Knoten gebunden und benutzte kaum Make-up. Irene hingegen schminkte sich gern auffällig und ließ ihr Haar offen.
    “Molly glaubt, du hast einen Freund”, sagte Grace. Sie war neugierig, ob ihre Schwester recht gehabt hatte.
    Ihre Mutter machte eine abwehrende Handbewegung. “Ach was. Aber sie trifft sich immer noch mit diesem Mann, den sie Weihnachten mitgebracht hatte.”
    “Bo ist nur ein guter Freund, das weißt du doch. Aber ich glaube langsam, dass du mir etwas verheimlichen willst, so eifrig, wie du das Thema gewechselt hast.”
    “Mit wem sollte ich mich denn treffen? Hier kann mich doch sowieso niemand leiden.”
    Ob das immer noch stimmte, war die Frage. Früher war es tatsächlich so. Als Irene Montgomery Reverend Barker geheiratet hatte und mit ihren drei Kindern aus dem benachbarten Booneville zu ihm gezogen war, war Grace erst neun Jahre alt. Aber auch schon mit neun bekommt man mit, was die Nachbarn tuscheln.
    Guckt sie euch an, wie sie hochnäsig durch die Gegend läuft! Als hätten wir in Stillwater nicht genug aufrechte Frauen, die viel besser zu unserem Reverend passen würden. Sie ist doch mindestens fünfzehn Jahre jünger als er! Bestimmt will sie nur an sein Geld ran …
    Lee Barker lebte durchaus in bescheidenen Verhältnissen und besaß nichts weiter als sein Einkommen als Seelsorger und die Farm. Aber es war mehr, als Irene und ihre Kinder je besessen hatten, und das genügte, um die Leute in Stillwater misstrauisch werden zu lassen. Alle waren der Ansicht, Grace’ Mutter hätte sich etwas genommen, was ihr nicht zustand.
    Dass Reverend Barker bei jeder Gelegenheit zwar undeutliche, aber dennoch abschätzige Bemerkungen über seine Frau fallen ließ, war nicht besonders hilfreich. Sogar in seinen Predigten machte er nicht Halt davor. Irenes Begeisterung für ihren neuen Ehemann verflog sehr schnell, je besser sie ihn kennenlernte.
    Grace war es immer ein Rätsel, warum die Menschen in Stillwater ihm so kritiklos ergeben waren – und wie es diesem schlechten Menschen gelungen war, alle davon zu überzeugen, ein Heiliger zu sein.
    Eine schwielige Hand packt sie am Arm. “Sei ganz still”, raunt eine tiefe Stimme in ihr Ohr. Als sie zu wimmern beginnt, wird der Griff des Mannes, den sie Daddy nennen soll, fester. Er will sie zum Gehorsam zwingen. Seine leibliche Tochter Madeline schläft im Bett gegenüber. Grace weiß, dass sie eine schlimme Strafe erwartet, wenn sie ihre Stiefschwester aufweckt.
    “Grace, ist alles in Ordnung?”, fragte ihre Mutter.
    Die Erinnerung verblasste. Grace verschränkte die Arme und bemühte sich, gelassen zu bleiben. Aber es gelang ihr nur ein gequältes Lächeln: “Alles bestens.”
    “Wirklich?”
    “Bestimmt”, versicherte sie. Aber sie spürte, wie das Gefühl von Zuversicht und Zufriedenheit, das sie eben noch erfüllt hatte, verschwand. Sie fühlte sich, als wäre sie aus der warmen Sonne in einen kalten Keller hinabgestiegen. Die Bilder und Gefühle, die sie tief in ihr Unterbewusstsein verbannt hatte, erwachten wieder zum Leben. “Es … es ist einfach zu heiß hier draußen. Wollen wir uns nicht lieber auf die Veranda setzen?”, schlug sie vor und wandte sich dem Haus zu.
    “Nach dreizehn Jahren … Ich kann wirklich nicht glauben, dass du zurückgekommen bist”, sagte ihre Mutter und folgte ihr.
    Bevor sie richtig darüber nachgedacht hatte, erwiderte Grace spontan: “Ich kann nicht glauben, dass du hiergeblieben bist.”
    “Ich konnte nicht weg”, sagte Irene beleidigt. “Glaubst du etwa, ich würde Clay einfach verlassen?”
    “So wie ich es getan habe?”
    Ihre Mutter schaute sie erschrocken an. “So habe ich das nicht gemeint.”
    Grace presste die Hand gegen die Stirn, nachdem sie auf der Hollywoodschaukel Platz genommen hatte. Keiner von denen, die die Wahrheit kannten, hatte ihr je Vorwürfe gemacht. Sie bemitleideten sie, wussten aber nicht, wie sie sonst damit umgehen sollten. Niemand machte sie verantwortlich, das tat nur sie allein. “Entschuldige”, sagte sie. “Es fällt mir nicht leicht, hier zu sein.”
    Ihre Mutter setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Sie sagte nichts, hielt sie aber eine Weile fest, während sie vor und zurück schaukelten.
    Die Spannung zwischen ihnen
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