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Totgekuesste leben laenger

Totgekuesste leben laenger

Titel: Totgekuesste leben laenger
Autoren: Kim Harrison
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»Zwischen dem, was ist und dem, was sein wird? Was heißt das?« Ich sitze am anderen Ende der Welt mit einem Engel am Tisch. Wie abgefahren ist das denn bitte?
    »Es bedeutet, dass dein Körper verloren gegangen ist, doch was verloren ist, kann auch wieder gefunden werden«, erklärte der Seraph. »Kairos muss deinen Körper an einem Ort versteckt haben, wo er verborgen und gleichzeitig sofort zu erreichen ist. Zwischen dem, was ist und dem, was sein wird.«
    Ich befeuchtete mir die Lippen und spähte verstohlen zu Kairos' Leiche hinüber. »Kannst du mich dort hinbringen?«
    Wieder lächelte der Seraph, sodass ich den Blick senken musste. »Es gibt kein dort, wo ich dich hinbringen könnte. Es ist einfach. Mit der Zeit wirst auch du es sehen können.« Er räusperte sich, ein sehr menschliches Geräusch, und hielt mir mein Amulett wieder hin. »Entscheide dich nun, dies anzunehmen oder ganz und gar zu vergehen.«
    Ja, klar, als hätte ich die Wahl.
    Der Wind, der vom Meer herüberwehte, blies mir die Ponyfransen aus der Stirn und ich blickte hinüber zu Nakita. Sie sah so schön und verloren aus, wie sie die Feuchtigkeit ihrer Tränen zwischen den Fingern verrieb und versuchte, sie zu begreifen.
    »Kann ich es fürs Erste nur akzeptieren oder so?«, fragte ich. »Nur, bis ich meinen Körper wiederfinde?«
    Der Seraph lachte. Das wunderbare Geräusch ließ die Luft erbeben und der Tisch zwischen uns zerbarst. »Und du behauptest, du glaubst nicht ans Schicksal!«, rief er fröhlich. Irgendwie erinnerte er mich dabei an Grace.
    »Ich meine es ernst«, erwiderte ich heftig und versuchte, mir meinen Schreck über den zerbrochenen Tisch nicht anmerken zu lassen. »Kann ich es nicht dabei belassen, bis ich meinen Körper finde, und das Amulett dann zurückgeben?« Wieder lebendig zu sein, das war alles, was ich wollte.
    Nakita war näher getreten, ihre Verwirrung war Entschlossenheit gewichen. Als er sie sah, trat Berechnung in die Gesichtszüge des Seraphen.
    »Wenn das deine Wahl ist«, entgegnete er listig. »Wahl?«, wiederholte ich bitter. »Ich dachte, bei euch geht es nur ums Schicksal.«
    »Es gibt immer eine Wahl«, sagte der Seraph. Wieder blickte ich zu Kairos und unterdrückte einen Schauder. »Kairos hat gesagt, es gibt nichts als das Schicksal.«
    »Und Chronos hat gesagt, es gibt nichts als den freien Willen«, hielt er dagegen.
    Der Seraph führte etwas im Schilde. Mit ihm zu reden, war wirklich eigenartig. Seine Gefühle waren so leicht zu durchschauen wie die eines Kindes, aber sie waren unglaublich mächtig. Ich leckte mir über die Lippen und drehte mich um, damit ich Kairos nicht mehr sehen musste. »Was davon ist das Richtige? Das Schicksal, oder der freie Wille?«
    »Beides«, antwortete er. Mit einem Rascheln seines Gewandes - es klang wie Sonnenschein - kniete der Seraph vor mir nieder und streckte die Hand mit dem Amulett demütig aus.
    Ängstlich sprang ich auf die Füße. »Tu das nicht«, flüsterte ich. Ich wollte doch einfach nur, dass mich keiner beachtete. Gleich wird mir schlecht. Jeden Moment kotz ich auf diesen wunderschönen Boden. Der Seraph sah auf. Der Schmerz fuhr mir in den Kopf und machte mich fast blind, als unsere Augen sich trafen. »Ich verehre dich. Du hast eine Fähigkeit, die mir fehlt«, sagte er sanft. »Trotz allem, was ich bin und getan habe. Denn du bist ein Mensch. Ihr werdet um eurer Erfindungsgabe willen geliebt, sei sie nun gut oder schlecht. Ich kann töten, aber ihr könnt erschaffen. Ihr könnt sogar ein … Ende erschaffen«, erklärte er wehmütig. »Das ist etwas, das ich nie können werde. Also nimm es an. Erschaffe etwas.« Ich starrte mein Amulett an. Es war so schön, der schwarze Stein mit den winzigen silbrigen Lichtern darin, die wie Sterne glitzerten. Ich konnte dem Seraphen nicht ins Gesicht sehen, weil es zu sehr schmerzte, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich anlächelte.
    »Madison, das Schicksal - und nicht sein Wille - hat Kairos veranlasst, dich zu töten. Das Schicksal hat dir den Mut verliehen, ihm sein Amulett zu entreißen. Das Schicksal hat Chronos dazu verleitet, dich vor uns geheim zu halten. Es war das Schicksal, das Hunderte von Augenblicken so eingerichtet hat, dass du hierherkamst, trotz alledem musst du dich entscheiden, ob du deinen Platz einnehmen willst oder so zurückkehrst, wie du warst.«
    Noch immer zögerte ich. »Was würdet Ihr wählen?« fragte ich. »Wenn Ihr könntet?«
    Der Seraph lachte. »Nichts. Ich bin ich.
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