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Totenwache

Totenwache

Titel: Totenwache
Autoren: Anna Jansson
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Krabbeln am Hals und auf der Kopfhaut. Irgendwelche Insekten, vielleicht Asseln oder Ohrwürmer? Es kratzt sie am Rücken. Maria schüttelt sich angeekelt, sieht aber ein, dass sie es nicht schafft, den Arm noch einmal zu heben.
    »Krister, du musst aufwachen! Ich liebe dich.« Seine Hand liegt schlaff in der ihren. Maria versucht sich mit letzter Kraft aufzurichten und verliert wieder das Bewusstsein.

    Ein schwacher Lichtschein hat sich durch die zugenagelten Luken des Bunkers vorgetastet. Der Regen fällt immer noch und sammelt sich in den Vertiefungen des Bodens. Der Sturm knickt die Glockenblumen, Margeriten und knospenden Mädesüß, die zu Boden gedrückt auf der Strandwiese vor dem Betonbunker, einem Relikt aus dem letzten Krieg, liegen. Immer wieder fährt er über das Strandgras, das sich ungeschützt und ohne Möglichkeit zu entkommen den wütenden Windstößen beugen muss. Der Strand liegt einsam und leer vor dem dunkelgrünen dichten Fichtenwald.
    Maria erwacht in jämmerlichem Zustand. Ihre Blase ist zum Bersten gefüllt. Im Kopf hämmert es. Kristers Hand ist so kalt und steif. Vorsichtig schlägt sie die Augen auf und blinzelt ins Licht. Starrt auf die Hand in ihrer Hand und den toten Mann neben sich. Mitten in ihrem entsetzten Schrei ist sie gezwungen, den Slip herunterzureißen und zu pinkeln. Instinktiv sucht sie die niedrigste Stelle und hockt sich dort hin, um nicht das Rinnsal auf dem Fußboden vor sich zu haben. Dicht an der Tür ist eine Vertiefung. Die ist schon vorher zum gleichen Zweck benutzt worden, ist voller Kot und Erbrochenem, und der Schmutz verbreitet einen fürchterlichen Gestank. Immer noch in der Hocke, versucht Maria die Stahltür aufzudrücken. Aber die Tür bewegt sich nicht. Sie ist mit dem Toten zusammen eingeschlossen. Die Wände kommen auf sie zu und bewegen sich auf allen Seiten nach innen. Die Luft bleibt ihr weg. Es besteht kein Zweifel, dass der Mann tot ist.

    Wachsbleich und erschlafft ruht sein Kopf auf dem Boden. Die farblosen Lippen spannen sich über den Zähnen. Der Mund ist weit geöffnet, die Augen sind halb offen. Der Blick ist ins Unendliche gerichtet. Auf dem weißen Oberhemd liegt ein grüner Zweig. Maria reibt vorsichtig die schmalen Blätter zwischen ihren Fingern. Rosmarin. »Hier ist Rosmarin, der stärkt das Gedächtnis«, sagt Ophelia zu Hamlet. Die Frau in dem Kräutergarten taucht aus dem Nebel auf, namenlos. Hat sie es nicht so gesagt? »Hier ist Rosmarin, der stärkt das Gedächtnis.«
    Rosmarin zur Erinnerung an die Toten, so war das doch. Maria zwingt sich, den Toten anzusehen. Lachen und Schluchzen steigen zugleich aus ihrer Kehle. Vor Schreck und Erleichterung darüber, dass es nicht Krister ist, der da neben ihr liegt. Wie lange hat sie die Hand des Toten gehalten? Maria blickt auf ihre Hand, als ob sie ein fremder Gegenstand sei. Angstvoll klammert sie sich an Details, um die ganze Wahrheit verdrängen zu können. Das schüttere Haar des Mannes. Die braunen Sandalen. Der seidene Schlips nachlässig gebunden. Die schwarze staubige Hose. Sie steht auf und versucht mit aller Kraft gegen die Bretter zu treten, mit denen die drei Luken zugenagelt sind. Ganz unten gibt es einen beinahe zehn Zentimeter breiten Spalt. Wenn es ihr gelingt, die Bretter wegzudrücken, könnte sie sich durch eins der Löcher hindurchzwängen. Wieder ruft sie um Hilfe. Ihr Kopf zerspringt fast bei jeder Anstrengung. Das Schwindelgefühl nimmt zu. Ihre Stimme wird matt. Es ist sinnlos, gegen den Sturm anzuschreien. Der Mund fühlt sich herb und trocken an. Wie lange ist es her, dass sie etwas getrunken hat? Maria friert trotz der Fleecejacke. Noch einmal versucht sie die Tür aufzustoßen, ohne Erfolg. Der Platz, den sie sich mit dem Toten teilen muss, ist höchstens vier Quadratmeter groß. Sie zwingt sich wieder, dem Mann ins Gesicht zu sehen, und meint ihn zu erkennen. Vage kann sie sich erinnern, ihn früher schon einmal gesehen zu haben. Aber sein Name fällt ihr beim besten Willen nicht ein.

    Langsam kommt die Dämmerung und verwischt die Gesichtszüge des Toten. Die Ecken des Bunkers verschwinden in der Dunkelheit. Maria Wern sucht fieberhaft in ihrem Gedächtnis, um ihre aussichtslose Situation zu verstehen: zusammen mit einem toten Mann in einem Bunker eingesperrt. Wer hat ihr auf den Hinterkopf geschlagen? Warum ist die Tür verschlossen? Warum lebt sie, nicht aber der Mann? Vielleicht muss der Mörder sie gar nicht selbst töten. Wie lange kann ein Mensch
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