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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition)
Autoren: Zoë Ferraris
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deutete auf eine spezielle Stelle des Tisches. »Hier«, wiederholte er. Sie kam sich vor wie in einem Vorschulspiel, mit dem ihre Feinmotorik getestet werden sollte. Er konnte höchstens fünfzehn sein. Er hatte noch keinerlei Bartansatz, und seine Augen glänzten jugendlich. Trotzdem hatte er etwas Lächerliches an sich, eine Arroganz, die nicht zu seinem Alter passte. Seine AK-47 baumelte ihm von der Schulter, und er zog sie hoch, wie eine Frau ihre Handtasche zurechtrückt.
    Sie wuchtete ihren Koffer auf den Tisch. Der Beamte öffnete ihn und bat sie nach einer gründlichen Durchsuchung, die Bücher herauszunehmen. Miriam stapelte sie auf dem Tisch, aber er fegte sie in einen Plastikbehälter, den er dann wegstieß.
    »Das sind bloß Krimis«, murmelte sie. Sie hatte extra keine Bücher eingepackt, auf deren Einband Menschen abgebildet waren, weil das als zu unschicklich galt. Dieselben Bücher hätte sie auch hier auf dem Schwarzmarkt kaufen können, aber sie wollte nicht gegen das Gesetz verstoßen. Sie klappte den Koffer zu und schloss ihn ab.
    Es wurde alles durchsucht außer ihrer Handtasche, einem beigen Lederding mit nachgemachtem Gucci-Aufdruck. Eigentlich war es bloß ein Kulturbeutel, der sich als Handtasche ausgab, ein Blickfang für potenzielle Taschengrapscher. Ihr Geld bewahrte sie in ihrem Schuh auf. Während sie durch die Metalltür ging, überlegte sie, warum die Beamten darauf verzichtet hatten, die Tasche zu inspizieren. Vielleicht hatten sie Angst davor, mit Tampons oder Lippenstiften in Berührung zu kommen. Jetzt war sogar auch ihre Tasche sittenwidrig, aber sie hielt sich an ihr fest, ihrer letzten Schutzzone.
    Miriam seufzte. Fast geschafft. Sie suchte die Menschenmenge auf der anderen Seite der Absperrung ab, aber von Eric war nichts zu sehen. Als sie Richtung Eingangshalle ging, wurde ihr klar, dass ihr helles Gesicht für alle Männer sichtbar war. Sie blickten ihr nie in die Augen, aber am Rande ihres Gesichtsfeldes konnte sie sehen, dass sie sie anstarrten. Tja, Pech, meine Herren . Mit ihrem Neqab vorm Gesicht würde Eric sie wohl kaum finden können.
    Zwischen ihr und den weißen Trennwänden der Zollabfertigung war nur eine einzige andere Gestalt – ein uniformierter Wachmann, der mit flotten Schritten in ihre Richtung ging. Er trug eine Maschinenpistole über der Schulter, und obwohl er den Blick abgewendet hielt, war unverkennbar, dass er auf sie zusteuerte. Sie erstarrte. Von der anderen Seite der Absperrung gafften die Leute. Es schien fast so, als würde der Wachmann an ihr vorbeiwollen, so schnell war er unterwegs, doch stattdessen packte er grob ihren Arm und zerrte sie unaufhaltsam mit. Sie leistete keinen Widerstand, sondern ließ ihren Koffer fallen und hastete neben ihm her, geschockt von dem brutalen Griff, der sie gepackt hielt.
    »Wohin bringen Sie mich?«, stammelte Miriam und erhielt prompt eine nonverbale Antwort, als er eine Tür in der Nähe der Passkontrolle aufstieß. Dahinter tat sich ein düsterer, kahler Raum auf. Ein halbes Dutzend Frauen saß auf Metallstühlen, sie sahen aus, als wären sie in der Hitze verwelkt. Der Wachmann stieß sie hinein, sie geriet ins Stolpern und musste sich fluchend an einer Stuhllehne festhalten. Ihr Gepäck kam hinterher und landete hinter ihr dumpf auf dem Steinboden. Eine Sekunde später schloss sich die Tür.

4
     
    Inspektor Osama Ibrahim beugte sich in den Kofferraum seines Wagens und kramte nach seinen Sportschuhen, während er unauffällig dem alten Angler nachschaute. Er war unsicher, ob es ratsam war, den Mann allein nach Hause fahren zu lassen. Er hatte so erschüttert gewirkt – und wer wäre das nicht nach einem derartigen Leichenfund? Aber irgendetwas an dem Alten hatte sein Mitleid geweckt und ihn daran erinnert, wie sein Vater gewesen wäre, wenn er länger gelebt hätte.
    Ein grüner Lichtschein, der goldene Schimmer im Inneren der Moschee überall um sie herum. Medina, das Grab des Propheten, Friede sei mit ihm. Plötzlich meinte er, wieder die leise Stimme seines Vaters zu hören: Du darfst es nicht berühren, es ist verboten, das Grab anzubeten, denn so wollte es Mohammed, sallallahu alaihi wa sallam .
    Eine Erinnerung an seinen Vater mit einem grauenhaften Mord in Zusammenhang zu bringen, kam ihm frevelhaft vor, und er hätte es gern als die Fehlleistung eines unter Hochdruck arbeitenden Verstandes abgetan, aber dafür kam es zu oft vor. Er war nun seit fünf Jahren für Mordfälle zuständig, und
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