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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition)
Autoren: Zoë Ferraris
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natürlich hatte er Leichen gesehen, aber sein Vater war der einzige Mensch, bei dem er tatsächlich Zeuge des Übergangs vom Leben zum Tod geworden war. Genau genommen kam als Erstes barzakh , der Zustand kalten Schlafes nach dem physischen Tod, noch ehe der Geist vom Körper aufsteigt, die Zeit, in der die Engel Munkar und Nakir die Toten befragen. Natürlich war das Unsinn, aber die Vorstellung gefiel ihm.
    Er ging über den Sand und fühlte sich fast nackt ohne Rafiq. Sein Partner war noch immer in Urlaub. Er hätte furchtbar gern Faiza hier gehabt, aber es gab keine Veranlassung, eine Frau mitzunehmen, und es hätte bei den Kollegen nur für hochgezogene Augenbrauen gesorgt.
    Der Strand war weiträumig mit Flatterband abgesperrt, und außerdem hatte das Forensikteam eine improvisierte Dienststelle an der Rückseite eines Vans eingerichtet. Männer liefen laut redend zwischen den Streifenwagen und Zivilfahrzeugen umher, die wahllos kreuz und quer auf der Straße parkten. So früh am Nachmittag herrschte hier kaum Verkehr, aber sie hatten die Straße trotzdem blockiert, um Neugierige fernzuhalten.
    Der alte Mann, der die Tote gefunden hatte, hatte sie Eva genannt, und jetzt bekam Osama den Namen nicht mehr aus dem Kopf. Die Stelle, wo Eva lag, wirkte seltsam friedlich, obgleich sie von Polizeikräften umringt war. Osama ging behutsam näher. Bitte nicht schon wieder ein Hausmädchen , dachte er. Nur das Gesicht des Spurensicherers verriet, was er empfand: gewaltiges, überströmendes Mitleid, als läge dort seine eigene Schwester. Osama war früher mal stolz auf die Mordrate des Landes gewesen, denn sie zählte zu den weltweit niedrigsten. Er hatte stets geglaubt, die Härte der Strafen hätte die gewünschte abschreckende Wirkung. Aber dann war er zur Mordkommission gekommen.
    Die Anzahl der Morde stieg, viele von ihnen waren grässlich, und er hatte mehr und mehr das Gefühl, dass das Land vor die Hunde ging. Letztes Jahr hatte ein Mann seinem einjährigen Neffen im Supermarkt vor den Augen der Mutter und einiger Kunden den Kopf abgehackt. Ihn komplett vom Rumpf getrennt. In der Obst- und Gemüseabteilung. Er hatte Streit mit den Eltern des Jungen gehabt. Sie hatten seinen Zorn erregt, und das war seine Rache.
    Osama zwang sich, die Leiche anzusehen. Er hatte kein Rauschen in den Ohren, aber der Anblick war so grausam, dass ihm die Haut prickelte. Hände und Gesicht der Toten waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, vermutlich in heißes Öl getaucht. Die Haut war eitrig, blasig und rot. Im Jahr zuvor hatte die Polizei im Aziziya-Distrikt genau vor dem Amt für Frauenförderung die verbrannte Leiche einer Frau gefunden. Sie steckte in einem ausrangierten Kühlschrank. Er hatte die Leiche nicht gesehen, weil das nicht sein Zuständigkeitsbereich war, aber angeblich qualmte sie noch, als sie gefunden wurde.
    Das hier war eine andere Art Grauen. Osama ging vorsichtig neben ihr in die Hocke, sorgsam darauf bedacht, nichts anzufassen. Die Wellen erreichten bereits ihre Füße und hatten die Jeans durchtränkt, die noch immer um ihre Knöchel geschlungen war. Die Sandwälle, die man aufgehäuft hatte, um das Wasser abzuhalten, solange gearbeitet wurde, bewirkten längst nichts mehr. Falls es an ihren Füßen Spuren gegeben hatte, waren sie vermutlich weggespült worden.
    Eva lag auf dem Rücken, ein Arm entblößt, die Hand geöffnet wie zu einem flehenden Gebet. Ihr Gesicht war nur noch verstümmelte Haut, aber das Auge war offen, klar und streng. Es schien zu sagen: Ich sehe dich, der du diese Schandtat begangen hast. Selbst im Tode sehe ich dich. Ihr schwarzer Umhang war bis zur Taille hochgeschoben. Ein Ärmel aufgerissen. Und das Tuch, das ihr Haar bedeckt hatte, war um ihren Hals gewickelt. Er stutzte, fragte sich, ob das Tuch nicht vor ihrem Gesicht gewesen war, als es verbrannt wurde. Der Stoff sah unversehrt aus.
    »Ablageort«, sagte Ibrahim knapp. Der Rechtsmediziner hatte zwar denselben Namen wie Osamas Vater, doch Osama fiel oft auf, dass es ansonsten kaum Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern gab. Diesem Ibrahim fehlte ein Ohr, er war fleischig, mit rundlichem Gesicht, und er hatte in den Achtzigerjahren als einer von Osama bin Ladens Mudschaheddin in Afghanistan gekämpft. Die Kollegen zollten ihm dafür Respekt, aber er konnte schroff und unhöflich und manchmal regelrecht bedrohlich sein.
    »Schon abzuschätzen, wann sie gestorben ist?«, fragte Osama.
    Ibrahim warf ihm einen finsteren Blick zu.
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