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Totenstimmung

Totenstimmung

Titel: Totenstimmung
Autoren: Arnold Kuesters
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doch klar.«
    »Sonst haben Sie nichts getan? Haben Sie nicht nach ihr gesucht? Oder sind Sie hier in der Wohnung geblieben?«
    Radermacher beugte sich vor, nahm die Kaffeetasse, um sie gleich wieder auf den Tisch zurückzustellen. »Wir hatten eine Besprechung. Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte doch auch nur warten.«
    »Wie haben die anderen auf die Nachricht reagiert, dass ihre Mitbewohnerin weg ist?«
    »Herr Kommissar, Behinderte haben oft ein anderes Zeitempfinden und eine ganz eigene Vorstellung vom Miteinander. Ich denke, sie haben es registriert. Dann waren ihnen aber andere Dinge wichtig. Wohin wir in Urlaub fahren, zum Beispiel. Oder wer mal wieder in der Küche nicht aufgeräumt hat. – Werden Sie sie denn finden? Ihre Mutter macht sich große Sorgen um sie.«
    »Bislang haben wir noch keinen Anhaltspunkt. Können wir ihr Zimmer sehen? Und ein Foto von ihr?« Michael Eckers wurde langsam ungeduldig.
    Volker Radermacher stand auf. »Kein Problem, kommen Sie. Im Schrank müssen noch Fotos von unserem letzten Ausflug liegen. Ich weiß nur nicht, ob Elvira auf dem Bild alleine abgebildet ist.«
    Am Ende eines schmalen Flurs blieb der Betreuer stehen und zeigte auf eine Tür. »Hier ist es.«
    Das Zimmer von Elvira Theissen war ebenfalls hell eingerichtet. An den Wänden hingen zahlreiche Poster und Fotos von Tokio Hotel. Das gemachte Bett war fest in der Hand von zahlreichen ordentlich aufgereihten Plüschtieren. Auf dem Nachttisch lagen bunte Haarbänder neben Diddl-Mäusen und einer Haarbürste. Auf dem Fensterbrett noch mehr Stofftiere. Auf einem kleinen Sideboard stand eine Musikanlage, davor lagen aufgeschlagenen CD -Hüllen.
    »Elvira war ein großer Fan von Tokio Hotel.«
    »Meine Tochter liebt Bill und Tom auch«, sagte Ecki.
    »Wenn es nur beim Schwärmen bliebe«, seufzte Radermacher. »Aber wenn jemand immer nur ein Stück hört, und das noch in einer Lautstärke, dass andauernd die Nachbarn vor der Tür stehen, dann kann ich auf diese Musik gut verzichten.«
    »Ich weiß genau, wovon Sie sprechen.«
    »Elvira mag Musik also sehr gerne?« Frank war an das Sideboard getreten und begutachtete die kleine CD -Sammlung.
    »Ja. Sie liegt oft stundenlang auf ihrem Bett und hört CD s. Gott sei Dank mittlerweile auch über Kopfhörer.«
    »Spielt sie ein Instrument? Macht sie selbst Musik?«
    Volker Radermacher runzelte die Stirn. »Jedenfalls nicht nach Ihren Maßstäben, vermute ich mal. Oder was verstehen Sie unter Musik machen? Wenn Sie zum Beispiel einfache Rhythmen meinen, auf Congas gespielt, das ist sicher kein Problem. Vielleicht auch eine Melodie. Das hängt immer von der Art der Behinderung ab.«
    »Hm.«
    »Sie werden sie doch finden, oder?«
    Statt auf die Frage einzugehen, öffnete Frank Borsch den Schrank. »Was hatte sie am Tag ihres Verschwindens an?«
    Radermacher trat neben Frank. »Lassen Sie mal sehen.« Er fuhr mit der Hand über die Kleidungsstücke, kontrollierte die T - S hirts, Pullover und die ordentlich aufeinandergelegte Unterwäsche. Dann schloss er die Schranktür.
    »Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich glaube, es fehlen ihre dunkelblaue Jogginghose und ein rotes Shirt.«
    Frank und Ecki wechselten einen schnellen Blick.
    »Und Frau Theissen kann problemlos allein leben?«, fragte Michael Eckers. Er hatte den Eindruck, dass Radermacher nicht länger als nötig in dem Zimmer bleiben wollte.
    Der Betreuer nickte und hob eine Augenbraue. »Nur weil Elvira behindert ist, heißt das nicht, dass sie hilflos ist, Herr Kommissar. Behinderung ist nicht gleich Behinderung. Elvira ist in großem Umfang in der Lage, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Wir müssen natürlich immer wieder Dinge mit unseren Bewohnern einüben. Busfahren zum Beispiel, aber vieles schleift sich mit der Zeit so ein, dass wir nicht immer aufpassen und dabei sein müssen. Sie sind auf ihre Art sehr autonom. Viele sind gerne mit dem Bus in der Stadt unterwegs. Wir müssen uns selbst immer wieder daran erinnern, dass wir die ›Menschen mit besonderen Bedürfnissen‹ nur dort abzuholen brauchen, wo sie stehen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    »Menschen mit besonderen Bedürfnissen?«
    »Die Bezeichnung beschreibt viel treffender, um was es geht. Ich finde das Wort ›Behinderte‹ sehr diskriminierend. Was heißt schon ›behindert‹? Sind Behinderte nicht einfach nur anders behindert als wir angeblich so normalen Menschen?«
    »Okay. Ich habe schon verstanden, Herr Radermacher.
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