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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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dem Tisch hervor ragte ein Paar khakifarbener Hosenbeine. Die Füße steckten in braunen Trekkingschuhen. Sie stießen fast an die Tür.
    Sackzement!
    Den ganzen Morgen hatte ich schon ein blödes Gefühl gehabt. Wie neben der Kapp. Seit mich im Oktober ein Irrer auf der Buchmesse so gut wie totgeschossen hatte, neigte ich zu Raumzeitkrümmungen. Vielleicht eine Folge des Ketamins, mit dem man mich sediert hatte, oder der vorübergehenden Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, jedenfalls war etwas in meinem Kopf aus der Spur gesprungen und geisterte linksherum. Manchmal wusste ich nicht, wie ich von A nach B gekommen war, ich dachte, was Richard erst Minuten später sagte, oder ich hörte mein Handy klingeln, schaute auf die Anzeige, und erst dann baute sich tatsächlich ein Anruf auf und es begann zu klingeln. Solche Sachen.
    Vermutlich wurde ich nur deshalb an diesem Montag, dem 31 . Januar Teil dessen, was manche heute die Kalteneck-Verschwörung nennen. Hätte ich akzeptiert, dass ich zu spät zum Termin gekommen war, und wäre einfach wieder gegangen, wäre alles anders gekommen. Hätte ich nicht nachgeguckt, wäre Rosenfeld nicht tot gewesen. Das ist das Geheimnis von Schrödingers Katze und allen Psi-Phänomenen. Sie sind erst da, wenn man im System ist. Und aus diesem System komme ich erst wieder raus, wenn ich weiß, wie ich hineingekommen bin.
    Auf der Leiter an der Außenwand der Burg Kalteneck handelte ich reflexartig, routiniert, fatalistisch. Lisa Nerz findet wieder mal eine Leiche. Ich krustelte mein Handy aus der Jackentasche – nicht fallen lassen! – und machte ein paar Fotos. Was draufkam, konnte ich nicht erkennen, denn die Sonne verblendete das Display.
    »Sehen Sie was?«, rief Desirée Motzer vom Fußweg über den Graben.
    »Ich komme runter«, antwortete ich.
    Beim Absteigen von der Leiter rutschte mir das Boot unterm Steiß weg. Ich sprang ab und stand bis zum Knie im eiskalten Wasser. Die Leiter, an der ich mich festgeklammert hatte, kippte von der Wand und schlug aufs Boot. Beinahe hätte der untere Holm mir noch einen Kinnhaken versetzt. Ganz fein, wenn man alles gut im Griff hat.
    Ich angelte das Boot herbei, wuchtete die Leiter drauf, watete durch brechendes Eis zu den Stufen, die straßenseitig hochführten, und machte das Boot an einem Busch fest. »Zutritt verboten«, stand außen am Törchen. »Das Betreten der Eisfläche ist nicht gestattet.« Genau genommen hatte ich die Eisfläche nicht betreten. Ich war durchgebrochen. In meinen Schnürstiefeln quatschte Wasser. Gern hätte ich wem anders die Schuld gegeben. Zum Beispiel den Schaulustigen an der Mauer. Oder dem kichernden Sonnenscheinchen.
    »Ich fürchte«, sagte ich, als wir über den Steg zurück auf die Insel gingen, »der Professor liegt in hilfloser Lage in seinem Büro.«
    »O Gott! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!«
    Wenn einer rücklings auf dem Boden liegt, ist ihm was passiert. Ich hätte vielleicht gleich von einer leblosen Person sprechen sollen.
    Die Uhr im Fachwerkgiebel unterm Dachfirst stand auf drei nach acht, obgleich es gerade fünf nach zwölf war. Das fiel mir auf.
    »Habt ihr nicht vielleicht doch einen Generalschlüssel? Oder soll ich die Tür eintreten? Andernfalls muss der Schlüsseldienst her, und zwar zügig.«
    Desirée wurde plötzlich fahrig. »Ich weiß nicht … da muss ich die Frau Doktor fragen.«
    »Denk nach, Sonnenscheinchen. Eine Schließanlage wie diese hat einen Generalschlüssel!«
    Desirée zog krachend Schreibtischschubladen auf und wühlte. Das beste Versteck ist Unordnung.
    Ich setzte mich inzwischen auf den Besucherstuhl und zog meine nassen Stiefel und Socken aus. Das Parkett war nagelneu und angenehm warm unter den Fußsohlen. Alle Wände waren weiß gestrichen, die Türen glänzten und spiegelten. Sonnenlicht ist der Feind des Gelichters.
    »Ist er das?«, rief Desirée und hielt einen Schlüssel in die Höhe.
    Ich schnappte ihn mir.
    »Was haben Sie vor?«, rief Dr. Barzani, aus den Tiefen des Gangs herbeieilend. »Moment!«
    Auch wenn die Frau Autorität war – Doktorin, stellvertretende Leiterin eines Instituts, im Kopf ein Mann –, so war sie doch auch wieder nur das Geschöpf von Männern. Und Männer wollen hören, wenn Frauen kommen, am Klacken der Absätze, am Rascheln der Röcke, am nylonzarten Aneinanderreiben der Oberschenkel.
    »Ich kann auch gleich die Polizei rufen.« Bei Akademikern half, wie bei anderen Menschen auch, das Vorhalten von harten
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