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Totenruhe

Totenruhe

Titel: Totenruhe
Autoren: Hans Jörg Hennecke
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Flocken vom Himmel regnete. Künstlerische Wunderwerke entstanden. Am historisch benannten Platz »Schwarzer Bär« erblickte ein Bär aus Schnee das Licht der Welt. Und alle warteten darauf, den Betonklotz der Bausünde Ihme-Zentrum aus Schnee zu erleben. Die Hoffnung war einfach zu verlockend, das ganze bauliche Elend beim nächsten Tauwetter einfach in der Kanalisation verschwinden zu sehen.
    Aber auch lange Winter müssen schließlich weichen, und die Lindener bemerkten das mit Erleichterung. Wintersport beglückt eben nur kurzzeitig. Selbst die Ihme, Grenzfluss zur benachbarten Landeshauptstadt, hatte sich allmählich vom Eise befreit. Allerdings kam dabei einiges zum Vorschein, das dem Image einer sauberen Stadt wenig entsprach. Zahlreiche Pappreste von Silvesterböllern blockierten Abflüsse der Kanalisation. Das Ergebnis waren wasserreiche Pfützen und konzentrierter Müll. Schockierender war allerdings, was auf dem Bergfriedhof entdeckt wurde. Eine Schneewehe hatte über Wochen die Leiche eines alten Mannes überdeckt. Eine Vermisstenmeldung gab es nicht. Die Polizei vermutete einen Obdachlosen, der offensichtlich in der Friedhofskapelle hatte Zuflucht suchen wollen. Am Eingang wurden ein Schlafsack und zwei Wolldecken sichergestellt. Unklar blieb, warum sich der Mann danach im Freien aufgehalten hatte und dort erfroren war. Gegenüber war auf einem Grabstein zu lesen:
    »Dort in jenen lichten Höhen erhoffen wir ein Wiedersehen.«
    Fremdeinwirkungen konnten an der Leiche nicht festgestellt werden. Der Blutalkoholgehalt von 1,7 Promille erregte bei einem Angehörigen der nichtsesshaften Personengruppe keinen polizeilichen Verdacht. Allerdings gab die Identität des Mannes Rätsel auf. Weitere Informationen gingen aus dem Polizeibericht für die Presse nicht hervor. Als Pastor Sauerbier den zur Kenntnis nahm, ahnte er, dass damit die Sache nicht aus der Welt war.
     

3.
     
    Am nächsten Tag brachten alle Zeitungen eine Zeichnung, die den Toten vom Bergfriedhof so zeigte, wie er mutmaßlich zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Wer war der alte Mann, wer kannte ihn, wer konnte Näheres mitteilen? Ausführlich wurde über Zahl und Schicksal von Obdachlosen berichtet, die angebotene städtische Schlafplätze verschmähten. »Da herrscht aggressive Stimmung, da wird gestohlen, da werden wir in der Nacht eingeschlossen« – so oder ähnlich lauteten die zitierten Aussagen der Betroffenen.
    Die Berichte verwunderten Sauerbier und er rief bei der Polizei die für seinen Arbeitskreis zuständige Beamtin an. »Warum fragen Sie die normale Bevölkerung? Hier geht es um Außenseiter, die leben in einer Parallelwelt auf Parkbänken und Kinderspielplätzen. Die sieht sich doch keiner genauer an. Da können Sie bestenfalls erfahren, welche Art Alkoholika die bevorzugen.«
    Die Beamtin seufzte hörbar. »Herr Pastor Sauerbier, das wissen wir auch so. Was sollen wir also Ihrer Meinung nach tun?«
    »Besser ich kümmere mich darum. Sie haben sicherlich Wichtigeres zu tun.« Sauerbier verabschiedete die Frau mühsam höflich und freute sich, seine Einsatzbereitschaft nicht der ignoranten Behörde ausgeliefert zu haben. Er schnitt sich das Porträt des Toten aus der Zeitung und klebte es auf eine Postkarte. Ein Avatar, so nennt man das wohl neudeutsch, dachte er voller Stolz. Ein Menschenbild aus dem Computer, noch moderner konnte man gar nicht sein. Seit sich der Pastor nach jahrelangem Drängen nun sogar ein Mobiltelefon zugelegt hatte, fühlte er sich auf der Woge des Zeitgeistes.
    Das Bild war gut. Man müsste es jetzt nur jenen vorlegen, die im Volksmund als Penner bezeichnet wurden. Sauerbier verwandte diesen Begriff nicht, das Wort war ein Zündfunke für vermeidbaren Streit. Wo sollte er mit seiner Recherche beginnen? Linden-Süd erschien ihm erfolgsträchtig. Der Pastor wohnte im Lindener Norden, geprägt von der politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft, inzwischen ergänzt durch zahlreiche Zuwanderung aus der Türkei. Linden war traditionell dreigeteilt. Der Lindener Marktplatz markierte das leicht bürgerlich getönte Linden-Mitte. Ein Stück weit hinter der Post begann schließlich Linden-Süd, ein traditioneller sozialer Brennpunkt. Und dort am Eingang zum Von-Alten-Park hatte er bei einem seiner seltenen Besuche in dieser Gegend Bänke gesehen, auf denen Menschen fröhlich und streitbar beisammen saßen, die den anonymen Toten unter Umständen identifizieren könnten. Ein Spaziergang von vielleicht
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