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Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund
Autoren: Tess Gerritsen
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bitterkalte Wind war nicht der Grund, dass sie sich so rasch von Daniel löste; sie tat es, weil sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Sie sah Sansones düsteres, undurchdringliches Gesicht, und sie sah, wie Jane sich verlegen abwandte, um ihrem Blick auszuweichen. Ich bin vielleicht von den Toten zurückgekehrt, dachte sie, aber hat sich irgendetwas wirklich verändert? Ich bin immer noch dieselbe Frau, und Daniel ist derselbe Mann.
    Er war es, der sie nach Hause fuhr.
    In der Dunkelheit ihres Schlafzimmers zogen sie einander aus, wie sie es schon so oft getan hatten. Er küsste ihre blauen Flecken, ihre verheilenden Schrammen. Liebkoste all die Stellen an ihrem abgemagerten Körper, wo die Knochen jetzt allzu sehr hervortraten. »Mein armer Schatz, du hast so abgenommen«, sagte er. Und er sagte ihr, wie er sie vermisst, wie er um sie getrauert hatte.
    Es war noch nicht Morgen, als sie erwachte. Sie setzte sich im Bett auf und sah ihm beim Schlafen zu, während draußen die Nacht dem Tag wich, und sie prägte sich sein Gesicht ein, das Geräusch seines Atems, seinen Duft und das Gefühl seiner Berührung. Wann immer er die Nacht mit ihr verbracht hatte, war mit der Morgendämmerung die Traurigkeit gekommen, denn das hieß, dass er sie verlassen musste. An diesem Morgen empfand sie wieder die gleiche Traurigkeit, und die Assoziation war so stark, dass sie sich fragte, ob sie jemals wieder einen Sonnenaufgang sehen könnte, ohne dass Verzweiflung ihr das Herz zusammenschnürte. Du bist meine große Liebe und mein Unglück, dachte sie. Und ich bin dasselbe für dich.
    Sie stand auf, ging in die Küche und kochte Kaffee. Mit ihrer Tasse stand sie am Fenster, als es draußen heller wurde und die ersten Sonnenstrahlen auf den mit Reif überzogenen Rasen fielen. Sie dachte an diese kalten, stillen Morgen in Kingdom Come, an denen sie endlich der Wahrheit über ihr eigenes Leben ins Auge geschaut hatte. Ich bin in meinem eigenen verschneiten Tal gefangen. Und ich bin die Einzige, die mich daraus retten kann.
    Sie trank ihren Kaffee aus und ging zurück ins Schlafzimmer. Setzte sich zu Daniel auf die Bettkante und sah zu, wie er die Augen aufschlug und sie anlächelte.
    »Ich liebe dich, Daniel«, sagte sie. »Ich werde dich immer lieben. Aber für uns ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen.«

38
Vier Monate später
    Julian Perkins nahm das Tablett mit seinem Lunch von der Selbstbedienungstheke der Highschool-Cafeteria und sah sich nach einem freien Tisch um, aber alle waren schon besetzt. Er sah, wie die anderen Schüler in seine Richtung schauten und sich dann ganz schnell abwandten, als fürchteten sie, er könne ihre Blicke als Einladung missverstehen. Er wusste genau, was diese krampfhaft hochgezogenen Schultern bedeuteten. Er war nicht taub für das Gekicher und Getuschel hinter seinem Rücken.
    Der Typ ist echt abartig.
    Diese Sekte hat ihm wohl den Verstand weggeblasen.
    Meine Mom sagt, der gehört in den Jugendknast.
    Schließlich erspähte Julian noch einen freien Stuhl, und als er sich setzte, rückten die anderen Schüler am Tisch hastig von ihm ab, als wäre er radioaktiv. Vielleicht war er das ja. Vielleicht sandte er Todesstrahlen aus, die jeden Menschen töteten, den er liebte, jeden Menschen, der ihn liebte. Er aß wie immer schnell, wie ein wildes Tier, das fürchtete, sein Futter könnte ihm entrissen werden, und schlang das Putenfleisch mit Reis in wenigen gierigen Bissen hinunter.
    »Julian Perkins?«, rief ein Lehrer. »Ist Julian Perkins in der Cafeteria?«
    Der Junge wand sich verlegen, als er die Blicke der anderen spürte. Er hätte sich am liebsten unter dem Tisch verkrochen, wo niemand ihn finden konnte. Wenn ein Lehrer in der Cafeteria deinen Namen ruft, dann bedeutet das todsicher nichts Gutes. Die anderen Schüler zeigten schadenfroh mit dem Finger auf ihn, und Mr. Hazledean kam bereits auf ihn zu, mit seiner unvermeidlichen Fliege und der stets grimmigen Miene.
    »Perkins.«
    Julian ließ den Kopf sinken. »Ja, Sir«, murmelte er.
    »Der Direktor will Sie in seinem Büro sehen.«
    »Was habe ich getan?«
    »Das wissen Sie wahrscheinlich selbst am besten.«
    »Nein, Sir, ich weiß es nicht.«
    »Dann würde ich vorschlagen, dass Sie hingehen und es herausfinden.«
    Mit großem Bedauern ließ Julian seinen unberührten Schokoladenpudding stehen, trug sein Tablett zum Rückgabefenster und ging den Flur entlang zum Büro von Direktor Gorchinski. Er wusste wirklich nicht, was er ausgefressen
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