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Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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denn Dialekt oder gar Polizeijargon. »Sie waren doch damals bei der Ausgrabung dabei. Vielleicht handelt es sich ja bei den jetzt gefundenen Knochen um etwas Ähnliches. Auf jeden Fall brauche ich jemanden, der sich an Ort und Stelle davon überzeugt, daß es sich dabei nicht um einen Fall für den Leichenbeschauer handelt.«
    Als er von seiner Notiz aufsah, fiel ihm das Nachmittagslicht schräg ins Gesicht und ließ dessen Falten noch tiefer erscheinen. Als LaManche zu einem säuerlichen Lächeln ansetzte, verschoben sich vier von diesen dunklen Schluchten ein wenig nach oben.
    »Sie glauben also, daß es wieder ein alter Friedhof ist?« fragte ich hinhaltend. Ein Leichenfund paßte überhaupt nicht in meine Vorbereitungen fürs Wochenende. Wenn ich wirklich am Freitag wegfahren wollte, dann mußte ich heute meine Sachen aus der Reinigung holen, ein paar Dinge aus der Apotheke besorgen, den Koffer packen, bei meinem Wagen den Ölstand überprüfen und Winston, dem Hausmeister, erklären, wann er meine Katze füttern sollte.
    LaManche nickte.
    »Okay«, sagte ich, obwohl ich die Sache ganz und gar nicht okay fand.
    LaManche gab mir den Notizzettel. »Brauchen Sie einen Streifenwagen, der Sie hinbringt?«
    »Nein, nicht nötig«, sagte ich mit betont niedergeschlagener Stimme. »Ich bin heute mit dem Wagen da.« Der Friedhof lag ohnehin auf meinem Nachhauseweg.
    Pierre LaManche entfernte sich so leise, wie er gekommen war. Er trug gerne Schuhe mit Kreppsohlen und achtete darauf, daß er nichts in den Hosentaschen hatte, was klappern oder klirren konnte. Er bewegte sich nahezu lautlos, wie ein durchs Wasser gleitendes Krokodil, was viele seiner Untergebenen als ausgesprochen nervtötend empfanden.
    Ich stopfte einen Overall und meine Gummistiefel in einen Rucksack, hoffte dabei aber insgeheim, daß ich beides nicht brauchen würde. Dann nahm ich den Laptop, meine Aktentasche und den bestickten Feldflaschenbezug, der mir in diesem Sommer als Handtasche diente und machte mich auf den Weg. Bis Montag, dachte ich, als ich mein Büro verließ, aber irgend etwas in meinem Hinterkopf sagte mir, daß das nur ein frommer Wunsch war.
     
    Im Sommer erinnert mich Montreal immer an eine Rumbatänzerin in buntem Rüschenkleid, die mit nackten Schenkeln und schweißnasser Haut von Juni bis September durchtanzt.
    Hier, wo der Winter lange und hart ist, feiert man die heißersehnte warme Jahreszeit: Straßencafés haben Hochkonjunktur, Fahrradfahrer und Rollerblader machen sich den Platz auf den Radwegen streitig, und auf den Gehsteigen wimmelt es von Menschen, die ständig von einem der überall stattfindenden Straßenfeste zum nächsten zu ziehen scheinen.
    Wie sehr unterscheiden sich die Sommer an den Ufern des St. Lawrence-Stroms doch von denen in meiner Heimat North Carolina, wo man sich vorzugsweise am Strand, in den Bergen oder auf der eigenen Terrasse in der Sonne räkelt. In den Südstaaten ist es schwierig, ohne einen Blick auf den Kalender eine genaue Grenze zwischen Frühling, Sommer und Herbst zu ziehen, deshalb hat mich in meinem ersten Jahr hier oben im Norden das ungestüme Frühlingserwachen noch mehr überrascht als der bitterkalte Winter. Mit einem Schlag hat es das Heimweh vertrieben, unter dem ich während der langen Kälte und Dunkelheit oft zu leiden hatte.
    Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich unter der Jacques Cartier-Brücke hindurchfuhr und nach Westen auf die Viger Avenue abbog. Links von mir lag am Ufer des Flusses das weitläufige Gelände der Molson-Brauerei, hinter dem sich das runde Hochhaus von Radio Canada erhob. Im Vorbeifahren mußte ich an all die Leute denken, die in diesem Büroturm eingeschlossen waren wie Affen im Käfig. Ich stellte mir vor, wie sie hinter ihren Fenstern saßen und sehnsüchtig hinaus in die verlockende Junisonne starrten, wie sie an ihre Boote, Fahrräder oder Turnschuhe dachten und dabei immer wieder auf die Uhr sahen.
    Ich fuhr die Fenster meines Wagens nach unten und schaltete das Radio ein.
    »Aujourd’hui je vois la vie avec les yeux du coeur«, sang Gary Boulet. Ich übersetzte die Worte automatisch und sah dabei den empfindsamen Mann mit dem wilden Lockenkopf und den dunklen Augen vor mir. Er hatte so leidenschaftliche Musik gemacht und war mit vierundvierzig Jahren viel zu früh verstorben.
    Ein alter Friedhof, dachte ich. Damit hatten wir forensischen Pathologen es immer wieder zu tun. Hunde, Bauarbeiter, Totengräber oder das Hochwasser legten ständig
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