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Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Titel: Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
Autoren: Dario Castagno
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aber sie konnten keinen Unterschied feststellen.
    »Vielleicht«, sagte der Schuhmacher, »hat die Mauer um ein paar Zentimeter nachgegeben, aber wie können wir das prüfen?«
    »Ich habe eine Idee«, sagte die Frau des Eisenwarenhändlers. »Ziehen wir unsere Jacken aus und legen sie draußen rund um die Kirche, da, wo wir die Mauern hinschieben wollen.« Die Idee schien vernünftig zu sein, und so entledigten sich alle ihrer Jacken. Dann kehrten sie in die Kirche zurück und schoben nochmals, mit noch mehr Hingabe.
    In der Zwischenzeit kam zufällig ein Dieb vorbei. Als er all diese unbeaufsichtigten Jacken sah, die fein säuberlich am Boden aufgereiht waren, dachte er, heute sei sein Glückstag. Er sammelte eine nach der anderen ein, lud sie sich auf die Arme und nahm alle mit.
    Gegen Mittag waren die Gläubigen hungrig und müde. Sie kamen aus der Kirche heraus, um etwas zu essen, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten. Draußen wunderten sie sich, dass sie ihre Jacken nirgends mehr sahen.
    ›Wir haben es geschafft!‹, rief der Holzfäller aus. ›Wir haben die Mauern so weit verschoben, dass wir unsere Jacken darunter begraben haben!‹ Und so waren die Leute von Monteciocchi zufrieden. Am Ende hatten sie für ihre größere Kirche nur mit ein paar Kleidungsstücken bezahlt. Stolz und glücklich veranstalteten sie ein großes Festessen und luden dazu auch die Bewohner der benachbarten Dörfer ein.«
    Während Tonio seine Geschichte erzählte, hatte sich eine kleine Zuhörermenge um ihn herum versammelt, denn er war in der Gegend für seine Geschichten bekannt. Alle lachten und klatschten Beifall. Tonio schmunzelte und zündete sich eine weitere Zigarre an. In diesem Augenblick hörte ich, dass jemand meinen Namen rief. Mein Öl war fertig. Ich verabschiedete mich von Tonio, schüttelte seine magere Hand und dankte ihm, dass er mir Gesellschaft geleistet hatte.
    Zu den Dingen im Leben, die ich am meisten schätze und die mir die größte Genugtuung geben, gehört neues Öl. Wenn es aus der Presse kommt, hat es einen vollen, beißenden Geruch, sehr fruchtig und leicht würzig. Es ist kräftig dunkelgrün, ein bisschen trüb, von typisch scharfem, ein wenig pfefferartigem Geschmack, und es kitzelt ganz leicht im Hals. Nach und nach wird das Öl dann klarer und sein Geschmack milder. Es verliert seine erste Frische und gleicht immer mehr dem Öl aus dem Supermarkt.
    Ich dankte dem Mühlenbesitzer und dachte, dass er keinen beneidenswerten Beruf habe bei all der Arbeit in dieser Jahreszeit. Die Schatten unter seinen Augen waren ein deutlicher Hinweis.
    Ich lud meine sechs Chromstahlbehälter zu je fünfzig Liter in den Bus und fuhr los. Beim Gedanken an die bruschette, die ich zusammen mit einer Flasche Rotwein heute Abend mit Cristina vor dem Kaminfeuer zu mir nehmen würde, lief mir das Wasser im Mund zusammen.
    Ich beschloss, wieder die Abkürzung den Fluss entlang zu nehmen, und hielt dort an, wo ich das alte Bauernhaus entdeckt hatte. Ich parkte an einer etwas breiteren Stelle am Straßenrand. Der Bach trat fast über die Ufer wegen der starken Regenfälle im Herbst, aber mit etwas Anlauf würde es mir ein Leichtes sein darüberzuspringen. Ich ging ein paar Schritte zurück, rannte los, sprang … patsch! Nur ein paar Zentimeter mehr, und ich hätte es geschafft. So aber stand ich knöcheltief im schlammigen Wasser.
    Mit meinen triefend nassen Schuhen kletterte ich die Böschung hinauf und bahnte mir, ohne meine Hose zu zerreißen, einen Weg durch dichtes Brombeergestrüpp. Kalt, nass und zerkratzt erreichte ich schließlich das Bauernhaus. Der Stall und ein paar weniger wichtige Nebengebäude waren eingestürzt, weil die alten Balken den vielen Jahren der Verwahrlosung nicht standgehalten hatten. Aber das Haus selbst stand trotzig da. Über der Haustür prangte eine faschistische Inschrift aus dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl viele Jahre vergangen waren, konnte ich sie noch deutlich lesen: Viva il Duce Viva il Re Imperatore – Es lebe der Duce – Es lebe der Kaiser und König. Das Haus war natürlich ganz aus Stein, aber Teile der Fassade waren mit Mörtel zugepflastert. Es sah so aus, als hätte man Schusslöcher zugemauert. Offensichtlich war das Haus Schauplatz eines Konfliktes gewesen. Vielleicht hatte es Widerstandskämpfern als Versteck gedient.
    Alles, was ich tun musste, war, einen Weg hinein zu finden. Die vordere Treppe war mit Brombeeren überwachsen, aber hinten stieß ich auf einen zweiten
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