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Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen
Autoren: Susanne Hornfeck
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Erinnerungen drängten mit Macht an die Oberfläche. Diesmal waren es keine glücklichen Bilder wie unter dem blauen Nachmittagshimmel. Jetzt war dunkle Nacht, so wie damals, als markerschütterndes Krachen und Klirren sie geweckt hatte. In das Bersten von Glas hatte sich das Johlen von Männerstimmen gemischt. Knappe Befehle wurden geschrien, wieder krachte es. Tritte gegen das Hoftor, dann das Splittern von Holz. Die Stimmen, lauter jetzt, grölten in der Einfahrt und schallten gleich darauf durchs Treppenhaus: »Komm raus, du Judenschwein!«
    Inge hatte das für einen schlimmen Traum gehalten. Doch als sie sich in den Arm zwickte, musste sie feststellen, dass es daraus kein Erwachen gab. Sie hatten den Vater mitgenommen, die Konditorei und das Café kurz und klein geschlagen. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor. Inge drückte ihre Puppe an sich, um nicht wieder in diesen Albtraum zurückzufallen, aber die Gundel kam ihr irgendwie hohl vor.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück trug auch Frau Finkelstein neben ihrem Ehering einen Diamant am Finger.

Abendland   – Morgenland
    Auf See, 1938   – Jahr des Tigers
    虎
    »Papa, Mama, da unten gibt’s ganz viele so wie wir. Ich meine, Deutsche, die nach Schanghai fahren, weil sie jüdisch sind.«
    Aufgeregt kam Inge von einem ihrer Erkundungsgänge in die unteren Etagen zurück. Sie hatte rasch herausgefunden, dass es in der ersten Klasse kaum Kinder gab, zumindest kaum welche, mit denen sie sich verständigen konnte. Und auf den hochnäsigen Rüdiger konnte sie gern verzichten. In der zweiten und dritten Klasse war es zwar eng, aber dafür ging es wesentlich lustiger zu, jedenfalls unter den zahlreichen Kindern. Die Erwachsenen wirkten bedrückt; Frauen standen in Grüppchen auf Deck und machten Pläne für eine ungewisse Zukunft, während die Männer unbeteiligt herumsaßen oder übers Meer schauten wie Inges Vater, viele ebenfalls mit geschorenem Kopf, den sie unter Hüten oder Mützen zu verbergen suchten. Inge hatte mittlerweile einen Blick für solche eingeschüchterten, gebückten Gestalten. Das waren Männer, die im Lager gewesen waren.
    »Manche da unten essen bloß gekochte Eier und Fisch, weil das Essen auf dem Schiff nicht koscher ist. Außerdem, sagt Max, ist die Verpflegung ziemlichmies«, berichtete Inge. Sie wusste zwar, was »koscher« bedeutete, aber bei den Finkelsteins hatten die jüdischen Speisevorschriften nie eine Rolle gespielt. Genau genommen war Inge gar nicht jüdisch, weil sie eine evangelische Mutter hatte, aber nach dem nationalsozialistischen Blutschutzgesetz galt sie dennoch als Halbjüdin. Und nach dem gleichen Gesetz galt die Ehe ihrer Eltern als Rassenschande.
    »Und wer bitte ist Max?«, wollte die Mutter wissen.
    »Der fährt auch mit seinen Eltern nach Schanghai. Er kommt aus Stuttgart, deshalb redet er ein bisschen komisch, aber sonst ist er ganz in Ordnung. Denen hat die SA auch den Laden zusammengeschlagen. Seine Eltern hatten ein Bekleidungsgeschäft.« Das sollte genügen, um die Mutter zu beruhigen, und Inge konnte nun ihrerseits fragen.
    »Haben die das denn in ganz Deutschland gemacht? Ich dachte immer, das wäre nur bei uns in Brandenburg passiert?«
    »Leider nein, Entlein. Die Ereignisse vom neunten November waren gezielte, von oben angeordnete Gewaltakte gegen jüdische Geschäftsleute und Bürger. Und jetzt reden sie verharmlosend von Reichskristallnacht, weil dabei überall im Reich so viele Glasscheiben zu Bruch gegangen sind.«
    Meistens war es die Mutter, die ihr solche Fragen beantwortete. Herr Finkelstein wollte über diese Dinge nicht sprechen, auch nicht über das, was ihm im Lager zugestoßen war. Beim Anblick des stummen Vaters gab es Inge jedes Mal einen Stich. Das war nicht mehr der gut situierte Bürger und deutscheFrontkämpfer, den sie ihr Leben lang gekannt hatte; er war wie ausgewechselt. Nichts erinnerte an den stattlichen Konditormeister und Caféhausbesitzer, der seine Gäste im dunklen Anzug und mit gestärkter Serviette über dem Arm bedient oder in der Backstube die wunderbarsten Torten und Plätzchen gezaubert hatte. Wo war der Mann, der in allen Lebenslagen Rat wusste und sich schützend zwischen seine kleine Tochter und die Welt gestellt hatte, die in jener Nacht klirrend zu Bruch gegangen war? Wohin war sein spöttisches Lächeln verschwunden? Zusammen mit dem welligen, dunklen Haar schien ihm jegliches Selbstvertrauen abhanden gekommen zu sein. Hoffentlich wuchs so was
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