Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
Vom Netzwerk:
zusammengepreßt, und ich mußte mich fast übergeben. Es kann sein, daß im selben Moment eine wie ein Tier heulende Mirjam die Treppe hinaufschoß, sich erst an dem Polizisten vorbeiwand und dann an mir. Ich habe kein klares Bild davon zurückbehalten, nur die Wahrnehmung von etwas Wirbelndem, dem ein hohes Wimmern entstieg. Wenn es so war (Mirjam kann es nicht bestätigen, für sie ist dies ein noch größeres schwarzes Loch), dann ist sie über den Flur in Tonios ehemaliges Zimmer gerannt.Dort befand ich mich auch auf einmal. Mirjam saß auf der Bettkante und zog sich, von einem Heulkrampf geschüttelt, Socken an. Ihr ratloses Gesicht.
    »Tonio, in kritischem Zustand«, wiederholte sie ein ums andere Mal wie in keuchender Trance. »Er stirbt. Vielleicht ist er schon tot.«
    Diese Socken, sie bekam sie beinahe nicht an. Sie blieben an ihren Zehennägeln hängen, und dann mußte sie wieder von vorn anfangen. Die plumpen Details, die es verstehen, sich trotz der scheinbaren Bewußtseinsverengung in einem einzunisten … später habe ich mich bitter darüber gewundert. So stand in einer Ecke des Zimmers ein Stativ, ohne Kamera, an dem ein silbriger Lichtschirm festgeschraubt war. Rings herum große schneeweiße Platten aus Styropor, die dem Fotografen zur Aufhellung gedient hatten.
    Ich stand da in meinem langen Arbeitshemd, lediglich eine Unterhose darunter – wie versteinert, vielleicht nicht länger als einige Sekunden, für mein Gefühl wesentlich länger.
    »So zieh dich doch an «, rief Mirjam heulend, fast schreiend. »Wir müssen zu ihm. Er stirbt.«
5
     
    Auf dem Flur traute ich mich nicht, über das Geländer hinunterzuschauen, ob der Polizist noch in der Treppenbiegung stand. Vielleicht hoffte ich, sein Auftreten sei eine Vision gewesen, ein Traumbild, das mich über den Schlaf hinaus überschattet hatte. Nicht einmal in meinem Augenwinkel leuchtete sein weißes Poloshirt auf.
    In kritischem Zustand . Viel zu lang (so kurz es möglicherweise auch war) stand ich im Schlafzimmer vor dem Stuhl mit meinen Kleidungsstücken, eine Socke in der Hand. Ich konnte nicht anders, als auf das gerahmte Foto über dem Heizkörper zu schauen. Eine venezianische Gondel mit Baldachin und Reklameschild: AMSTEL HOTEL . Sie schwammauf der Amstel vor der Hoge Sluis und diente dazu, Hotelgäste überzusetzen, von denen sich einige schon an Bord befanden. Ihrer Kleidung nach zu urteilen stammte die Szene aus den zwanziger oder dreißiger Jahren. Tonio hatte das Foto aus dem Internet heruntergeladen und für mich vergrößert, als Geschenk für dreißig Jahre Een gondel in de Herengracht (Eine Gondel auf der Herengracht), Ende 2008. So ein Junge war er.
    Ich hörte Mirjams rennende Füße auf dem Flur und gleich danach auf der Treppe, deren Stufen ihrem hohen Heulton einen gräßlichen Rhythmus verliehen. Ich schlüpfte rasch in die fahle Trainingshose, die ich für langes Sitzen am Schreibtisch bereitgelegt hatte.
    Socken. Schuhe. O Gott, laß ihn durchkommen. Nicht für mich. Für Mirjam. Für Tonio selbst. Und ja, auch für mich, selbst wenn ich es nicht verdiente.
    Ein Klopfen an der Tür. Ich band mir gerade meine abgetragenen Hausschuhe zu, in denen ich mich normalerweise niemals auf die Straße gewagt hätte. Der Polizist wieder. »Mijnheer, sind Sie soweit? Ihre Frau bittet Sie, schnell herunterzukommen.«
    Seine junge, an der Polizeiakademie geschulte Stimme mit dieser Spur von Mitgefühl.
    »Ich komme.« Für einen Moment Irritation. Ich war gezwungen, ohne zu duschen äußerst schäbige Kleider anzuziehen, und jetzt hetzten sie mich auch noch, verdammt noch mal. Was hatten sie denn erwartet? Daß wir wie aus dem Ei gepellt, Paß in der Hand, ungeduldig hinter der Haustür warteten, um Bestätigung für die lang erwartete Unglücksnachricht zu bekommen? Was, wenn wir wie an früheren Pfingstwochenenden bis drei, vier Uhr nachts ausgegangen wären und jetzt noch im Bett gelegen hätten, um unseren Rausch auszuschlafen? Dachten sie vielleicht mal daran?
    Während ich zur Tür stürzte, fiel mein Blick auf die Buntstiftzeichnung über dem Bett. Tonios Doppelporträt seinerEltern, von 1994. Er war fünf, fast sechs, und hatte es in wenigen Minuten gemalt, während er auf dem Fußboden eines französischen Restaurants lag und sein Teller Pasta auf dem Tisch kalt wurde. Weil der Mann auf der Zeichnung einen Hut trug, was ich nie tat, fragte ich Tonio sicherheitshalber, wen die beiden auf dem Bild darstellten.
    »Dich und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher