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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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eingerichtet, dass jedes Detail im Alltag mich an diese erhabene Lehre erinnern sollte. Der Fürst hat verfügt, nach seinem Tod dürfe hier nichts geändert werden.«
    »Ich hoffe, meine Frage kränkt Sie nicht, aber was ist an der Vielgötterei erhaben?«
    »Die Menschen verstehen heutzutage nicht mehr, was sie eigentlich bedeutet. Sogar in der Antike erschloss sich das Wesen der Vielgötterei nur Eingeweihten. Aber der verstorbene Fürst besaß ein altes Buch, das dieses Geheimnis enthüllte – es war nur in einer einzigen Abschrift erhalten und er hat es in einem italienischen Kloster erworben. Der Überlieferung nach hat Apollonios von Tyana es selbst geschrieben.«
    »Und was steht in dem Buch?«
    »Erstens widerlegt es die Lehre von der Schöpfung der Welt.«
    »Wie das denn?«
    »Diese bizarre Theorie, die den westlichen Geist mit allerlei abenteuerlichen Vorstellungen vergiftet hat, gründet ausschließlich auf einer Analogie zum Leben des Hornviehs, das unsere Vorfahren jahrtausendelang gehütet haben. Kein Wunder, dass ihnen die Idee der Schöpfung kam. Verwunderlich ist etwas anderes, nämlich dass diese Vorstellung bis heute das Fundament der modernen Spiritualität bildet …«
    »Verzeihen Sie«, sagte T., »aber ich begreife nicht so recht, was das Hornvieh damit zu tun hat.«
    »Wenn das Vieh sich gegenseitig befruchtet, wird neues Vieh geboren, das dann weiterexistiert und nicht immer wieder von Neuem gezeugt werden muss. Die Menschen der Antike übertrugen diese Beobachtung auf höhere Sphären und kamen zu dem Schluss, dort herrsche das gleiche Prinzip. Sie glaubten, es gebe einen zeugungsähnlichen Schöpfungsmoment, in dem eine Gottheit, ein Hermaphrodit, sich selbst befruchtet, und bezeichneten diesen Moment als ›Erschaffung der Welt‹. Nach ihrer Geburt existiert die Welt weiter, eben weil sie bereits gezeugt und geboren wurde.«
    »Ich habe mir nie überlegt, dass diese Weltanschauung mit der Viehzucht zusammenhängt.«
    »Sehen Sie«, sagte die Fürstin, »auf diesen simplen Gedanken kommt einfach niemand.«
    »Und wie stellen die Anhänger der Vielgötterei sich die Erschaffung der Welt vor?«
    »Sie glauben, dass die Schöpfung immer noch fortdauert, sich sozusagen ununterbrochen ereignet, Augenblick für Augenblick. Zu verschiedenen Zeiten erschaffen uns verschiedene Gottheiten – oder, um es weniger feierlich auszudrücken, verschiedene Wesen. Kurz gefasst besagt die Lehre der Vielgötterei, dass die Götter ständig mit der Erschaffung der Welt beschäftigt sind und keine Minute ruhen. Jede Sekunde wird Eva aus Adams Rippe neu geschaffen, der Turm zu Babylon wird von göttlichen Händen unaufhörlich umgebaut. Die Pantheons der Antike sind lediglich eine zwar anschauliche, aber dem Laien unzugängliche Metapher, in der diese Offenbarung festgehalten wird …«
    »Schwer zu glauben«, sagte T., »dass die Hellenen solche bizarren mystischen Theorien konstruiert haben. So wie ich sie mir vorstelle, waren sie eher simple, sonnige Gemüter. Aber das kommt mir alles irgendwie so mathematisch und deutsch vor. Oder sogar jüdisch.«
    Die Fürstin lächelte.
    »In spirituellen Fragen, Graf, ›gibt es weder Judäa noch Hellas‹, wie es ein fröhlicher Jude zu der Zeit ausdrückte, als es noch Hellenen gab … Wieso essen Sie keinen Hecht?«
    »Ich versuche, mich an vegetarische Kost zu halten.«
    »Wenn Sie nichts essen«, sagte die Fürstin Tarakanowa kokett, »dann werde ich nichts mehr sagen.«
    T. lächelte und griff nach dem Fischmesser.
    »Fahren Sie fort, ich bitte Sie«, sagte er und zog den Teller heran. »Sie haben noch nicht erklärt, wie die Götter uns erschaffen. Sind sie alle zusammen am Werk? Oder immer abwechselnd?«
    »Beides kommt vor.«
    »Könnten Sie das nicht an einem Beispiel erläutern?«
    »Ich versuche es. Stellen Sie sich vor, ein Mann kommt nach dem Gottesdienst aus der Kirche und ist von religiöser Ergriffenheit durchdrungen. Er hat sich geschworen, sanftmütig zu sein und denen zu vergeben, die ihn beleidigen … Dann flaniert er über den Boulevard und begegnet ein paar Müßiggängern. Einer von denen erlaubt sich eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über den Schnitt der Hose unseres Helden. Ohrfeige, Duell, Tod des Gegners, Zuchthaus. Sie nehmen doch wohl nicht an, dass alle diese Handlungen ein und denselben Urheber haben? So ist es, wenn verschiedene Wesen uns erschaffen und dabei abwechselnd handeln. Und wenn Sie sich vorstellen, dass unser Held
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