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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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Tisch standen gepolsterte Sitzbänke mit weichen bunten Decken; die Fürstin Tarakanowa hatte es sich bereits auf einer solchen bequem gemacht. T. erkannte, dass die freie Lagerstatt gegenüber für ihn gedacht war.
    Auf einer gewaltigen ovalen Platte, die den gesamten Mittelteil des Tischs einnahm, ruhte ein unglaubliches Wesen – ein Drache mit grüner Mähne und vier gekrümmten Tatzen. Er sah erschreckend real aus.
    » Make yourself comfortable , Graf«, sagte die Fürstin. »Brotwein habe ich keinen, dafür aber einen ganz anständigen Weißwein. Einen Muscadet sur Lie . Obwohl ich die Bretagne eigentlich nicht mag …«
    Sie deutete auf einen silbernen Weinkühler, aus dem ein Flaschenhals ragte.
    Als T. es sich auf seiner Lagerstatt bequem gemacht hatte, griff er nach einer Serviette, um sie unter dem Kragen seines Morgenrocks zu befestigen, aber er erkannte, dass das schwierig war, wenn man auf dem Bauch lag – und außerdem würde es nichts nützen.
    »Das ist also Ihr Hecht?«, fragte er. »Ich wäre nie darauf gekommen, wenn Sie mir das nicht vorher gesagt hätten. Für einen Hecht scheint er mir ein bisschen groß …«
    »Hecht Tarakanow ist ein sehr ungewöhnliches Gericht«, sagte die Fürstin voller Stolz. »Es wird aus mehreren großen Fischen zubereitet, die so geschickt zusammengefügt sind, dass es niemand merkt. Das Ergebnis ist ein Drache.«
    »Woraus werden denn die Tatzen gemacht?«
    »Aus Aal.«
    »Und die grüne Mähne?«
    »Das ist Dill.«
    Der Drache war tatsächlich mit großer Meisterschaft gefertigt – man konnte nicht erkennen, wo die einzelnen Fische zusammengefügt waren. Er lief in einem kunstvoll gebogenen Fischschwanz aus, und den Vorderteil bildete ein Hechtkopf mit weit aufgesperrtem Rachen. Der Kopf war stolz erhoben und mit einem Kavallerie-Federbusch aus Kräutern und bunten Papierstreifen verziert.
    »Warum muss man so viele lebende Wesen töten, um zwei Vertreter des müßigen Standes satt zu machen?«, fragte T. melancholisch.
    »Keine Sorge, Graf«, lächelte die Fürstin. »Ich bin mit Ihren Ansichten vertraut. Ich versichere Ihnen, kein einziges lebendes Wesen ist umsonst gestorben. Außer uns beiden befinden sich noch viele andere Esser auf dem Schiff.«
    »Oh ja«, sagte T. »Das habe ich bemerkt, als ich durch den Schiffsraum kam.«
    Die Fürstin errötete.
    »Sie meinen vielleicht, dass ich diese Leute expluitiere?«, sagte sie und sprach das Fremdwort mit einem »u« aus. »Keineswegs. Es sind ehemalige Treidler, sie sind diese Art Arbeit gewöhnt. Sie selbst, Graf, erzählen doch den Zeitungsleuten immer vom Nutzen körperlicher Arbeit an der frischen Luft. Und wenn sie ein oder zwei Jahre bei mir arbeiten, haben sie für ihr Alter ausgesorgt. Also verurteilen Sie mich nicht vorschnell.«
    »Wie könnte ich meine Retterin verurteilen, ich bitte Sie! Ich könnte Ihnen höchstens eine gewisse Extravaganz Ihres Geschmacks …«, T. nippte an seinem Weinglas, »… Ihres tadellosen Geschmacks attestieren, Fürstin. Ein vorzüglicher Wein.«
    »Ich danke Ihnen«, sagte die Fürstin. »Mir ist klar, dass mein Lebensstil merkwürdig anmuten mag. Wie eine Parodie auf die Antike. Eine Gutsbesitzerin, die über die Stränge schlägt. Aber in all dem, das versichere ich Ihnen, liegt eine tiefe spirituelle Bedeutung. Denken Sie an den Knoten, den man ins Taschentuch macht, um etwas Wichtiges nicht zu vergessen. Das Prinzip ist das Gleiche. Es war der Letzte Wille des verstorbenen Fürsten. Mein Leben ist so eingerichtet, dass alles rings um mich daran gemahnt, das Wesentliche nicht zu vergessen.«
    »Und was ist das?«, fragte T. mit ungeheucheltem Interesse.
    »Dreimal dürfen Sie raten, Graf, versuchen Sie es.«
    »Das wird mir kaum gelingen.«
    »Ich will Ihnen helfen. Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an die Antike denken?«
    »Nun …« T. stockte.
    »Das können Sie gleich vergessen«, lachte die Fürstin. »Sie kleiner Schelm … Was noch?«
    T. musterte die Gladiatorenausrüstung an der Wand.
    »Zirkuskämpfe?«
    Die Fürstin schüttelte den Kopf.
    T. blickte zu Artemis mit dem Hirschen, dann zu Apoll, der einen imaginären Bogen spannte.
    »Vielgötterei?«
    Die Fürstin sah T. mit großen Augen an.
    »Gratuliere, Sie haben es erraten! Stimmt genau, Graf. Der verstorbene Fürst war ein profunder Kenner der Antike und hat mich in ihre geheimen Lehren eingeweiht. Allerdings hatte er kein Vertrauen in meine spirituellen Fähigkeiten, und deshalb hat er es so
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