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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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mit den Armen.
    »Ich … Ich?? Warum kann ich mich an nichts erinnern? Habe ich eine Gehirnerschütterung? Stopp … Dieser Mann, dieser Knopf, hat gesagt, ich hieße Graf T. und sei unterwegs nach Optina Pustyn. Aber woher komme ich? Ach so, er hat gesagt, aus Jasnaja Poljana, das ist das Gut, das wir durchs Fenster gesehen haben … Aber warum habe ich Jasnaja Poljana verlassen, warum bin ich unterwegs nach diesem Optina Pustyn?«
    T. blickte sich um.
    Unter der Brücke erschien ein Schiff. Es sah merkwürdig aus, wie ein großer Lastkahn mit Rudern, die aus Luken in den Bordwänden herausstaken. Die Ruder erhoben sich im Einklang über den Fluss, verharrten einen Augenblick und senkten sich wieder ins Wasser, wobei sie ebendieses Plätschern erzeugten, das T. schon einige Zeit vernommen hatte.
    Je näher das Schiff kam, desto mehr ungewöhnliche Details waren zu erkennen. Es war mit einer Art Galionsfigur geschmückt, einer Kopie der Venus von Milo auf einem Holzsockel (dem zarten Spiel des Lichts nach zu urteilen war sie aus echtem Marmor). Am Bug des Schiffs waren wie bei einer griechischen Triere zwei weißblaue Augen aufgemalt, und über dem Deck erhob sich ein Aufbau, der erstaunliche Ähnlichkeit mit einem einstöckigen Haus in einer russischen Kreisstadt hatte. Bei all diesem Zierrat aber war deutlich zu erkennen, dass das Schiff keine Triere, sondern einfach ein großer Lastkahn war.
    Als er neben der Bordwand war, schwamm T. zu den Ruderluken. Dahinter saßen finstere Kerle, in eine Art Tunika aus grobem Tuch gekleidet. Keiner von ihnen blickte auch nur in die Richtung von T., der jetzt dicht neben ihnen schwamm.
    »Ackerbauern«, dachte T. und versuchte, sich möglichst nahe an der Bordwand zu halten. »Ihrem natürlichen Element entrissen, zu Sklaven einer fremden Laune gemacht … Andererseits, wenn man einen Ackerbauern in der Fabrik an eine Werkbank stellt, ist das im Grunde genauso eine Schinderei …«
    Die letzte Luke in der Reihe war leer, der Raum dahinter war vom Schiffsraum getrennt durch eine Zwischenwand, hinter der man sich verstecken konnte. T. klammerte sich an den Rand der Luke, zog sich hoch und kletterte hinein, wobei er sich bemühte, keinen Lärm zu machen. Anscheinend hatte ihn niemand bemerkt.
    Im Schiffsraum roch es nach Spreu und Schweiß. Die Männer, die auf ihren am Boden befestigten Bänken saßen, stießen ein rhythmisches Heulen aus, während sie sich vor- und zurückwiegten. Im Durchgang stand ein Aufseher, bekleidet mit einer Tunika, wie sie auch die Ruderer trugen, nur mit einer Silberschnalle an der Schulter. Er gab den Rhythmus vor, indem er mit einem hölzernen Schlegel in Form eines Hammelkopfes gegen eine Kupferschale schlug.
    T. wartete, bis der Aufseher sich abgewandt hatte, stieß dann eine Tür mit einer unbeholfenen Zeichnung von Apoll als Bogenschütze auf und schlüpfte aus dem Schiffsraum. Hinter der Tür befand sich eine schmale Holztreppe. T. stieg nach oben und trat hinaus an Deck.
    Fast die gesamte Fläche wurde von dem Aufbau eingenommen, der aussah wie ein längliches, einstöckiges Haus. Im Grunde war es ein richtiges Haus, mit einem Blechdach und falschen Säulen, an denen der feucht gewordene Putz hier und da abblätterte und die Kiefernlatten darunter entblößte. Die Wände hatten Fenster und Türen, wie es sich gehörte.
    T. spähte vorsichtig in eines der Fenster. Durch die dichten Vorhänge konnte man nichts sehen.
    Plötzlich öffnete sich die nächstgelegene Tür einen Spaltbreit, und eine leise Männerstimme rief:
    »Euer Erlaucht! Hierher, schnell!«
    T. trat näher. Hinter der Tür befand sich ein Abstellraum mit allerlei Gerümpel auf den Regalen. Menschen waren keine zu sehen.
    »Kommen Sie doch herein«, wiederholte die Stimme mit Nachdruck, ohne dass zu erkennen war, woher sie kam.
    T. trat ein und die Tür schloss sich, wie von einer Feder zugezogen. Sofort herrschte tintenschwarze Finsternis. Wie Jona im Bauch des Wals, dachte T. und hatte plötzlich den biblischen Propheten ganz deutlich vor Augen – gelbes Gewand, zerknirschtes liebliches Gesicht und langes, mit Öl eingeriebenes welliges Haar.
    »Wenn Sie vorsichtig zurücktreten«, sagte die Stimme, »werden Sie hinter sich einen Stuhl ertasten. Setzen Sie sich.«
    »Ich sehe Sie nicht. Belieben Sie, sich zu verstecken?!«
    »Ich bitte Sie, Graf, setzen Sie sich.«
    T. ließ sich auf den Stuhl sinken.
    »Wer sind Sie?«, fragte er.
    »Und wer sind Sie?«
    »Da Sie mich mit
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