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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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Entscheidungen, mit denen alle zufrieden waren. Es versuchte nicht jeder einzelne, alle anderen zu dominieren. Die Japaner nehmen sich selbst einfach nicht so unwahrscheinlich wichtig . Sie denken für die anderen in der Gruppe mit.
    Selbst die Steuererklärung erledigen sie im Team: Im dritten Stock meines örtlichen Finanzamts versammeln sich die Bürger, um an langen Reihen von Stehtischen die Formulare für die Einkommensteuer auszufüllen. Finanzbeamte in knallgelben Jacken laufen dazwischen herum und helfen den Bürgern. Für Senioren und Menschen mit einer Behinderung stehen an der Seite sechs »Vorrang-Plätze« mit Stühlen an normalen Schreibtischen bereit. Unter den Neonröhren in dem Raum herrscht die geschäftige Stimmung, die in Asien so leicht aufkommt: Die Experten in den gelben Jacken eilen im Laufschritt zu Bürgern, die ihnen winken.
Wenn einer fertig ist und seinen abschließenden Stempel auf das Formular drückt, verbeugen sie sich und bedanken sich für das Steuergeld.
    Ob es wohl schon einmal vorgekommen ist, dass sich ein deutscher Finanzbeamter vor einem Steuerzahler verbeugt hat?
    Als ich in einer Steuersache am Rand wartete, erhielt ein älterer Herr eine Sonderbehandlung. Er trug einen tadellos sitzenden Anzug mit Krawattennadel und hatte das graue Haar penibel gescheitelt. Der Herr musste mehrere Zusatzformulare ausfüllen, während zwei Finanzbeamte sich um ihn kümmerten. Sie verbeugten sich beim Abschied besonders tief. »Passen Sie auf Ihre Gesundheit auf! Kommen Sie gut heim! Wir haben leider viel Mühe gemacht! Bitte verzeihen Sie uns!«, riefen sie ihm hinterher.

    Völlig Unbekannten gegenüber verhalten sich die Japaner dagegen vergleichsweise unsozial. Das Denken in Gruppen bringt es mit sich, dass stets eine klare Linie die Mitglieder des eigenen Teams von der Außenwelt abgrenzt. Wenn einer nicht dazugehört, muss ich ihm gegenüber auch keine Anteilnahme zeigen - außer er ist ein Kunde. Ein Mensch ist entweder »uchi«, drinnen, oder »soto«, draußen. Eine Gruppe Japaner in Deutschland bildet dort sofort ihr eigenes »uchi«. Ihre Mitglieder arbeiten hervorragend zusammen, grenzen sich jedoch gegen die Einheimischen ab. Die gleichen Leute wären in Japan jedoch erbitterte Feinde, weil sie für konkurrierende Großunternehmen arbeiten. Nettigkeit ist eigentlich nur gegenüber denen nötig, die gerade »uchi« sind. Anders geht es vermutlich nicht in diesem dicht besiedelten Land.
Japan hat unter den größeren Ländern die viertgrößte Bevölkerungsdichte.
    Cafés, vor allem die Ketten wie Starbucks, dienen als Arbeitsraum, Lesezimmer und Büro. In den engen Wohnungen staut sich schließlich oft das Gerümpel. Gerade kurz nach Mittag sind in der Tokioter Innenstadt sämtliche Cafés voll. Als Akiko und ich uns einmal vom Einkaufen ausruhen wollten, hatte sich in der Filiale von »Excelsior« in Ikebukuro bereits eine Schlange von zehn, zwanzig Leuten gebildet, die mit ihrem Tablett in der Hand auf einen Platz warteten. Der Kaffee wurde kalt, bevor sie sich setzen konnten. Geduldig standen sie da und versuchten, nicht allzu gierig auf die Sitze zu starren.
    Die Sitzenden brachten es jedoch fertig, die Wartenden völlig auszublenden. Ihr Kaffee war längst leer, sie lasen noch genüsslich ein Kapitel in einem Buch, zogen langsam an ihrer Zigarette. Sie schrieben auf ihrem Notebook oder hörten mit ihrem Musikspieler in ein neues Album hinein. Wäre eine Kamera nur auf die Sitzenden gerichtet gewesen, es wäre nicht zu erkennen gewesen, dass gleich daneben zwei Dutzend Leute warteten.
    Als ich meinen Cappuccino ausgetrunken hatte, sagte ich: »Komm, lass uns aufstehen, da warten so viele Leute«, doch Akiko schaute mich völlig verblüfft an. »Warum sollten wir aufstehen, nur weil da Leute warten?«
    In der U-Bahn ist es morgens wirklich unwahrscheinlich eng. Manchmal muss ich einen Arm über den Kopf nehmen, weil er seitlich keinen Platz mehr hat. Irgendwie quetschen alle noch ihre Aktentaschen dazwischen. In der Marunouchi-Linie drängte mich die Menge eines Morgens so
an eine Haltestange in die Ecke, dass es richtig weh tat. Das ließ sich nur aushalten, weil alle frisch geduscht in tadelloser Kleidung unterwegs waren, was sich vom Berliner U-Bahn-Publikum nicht durchweg sagen lässt.
    Auf Höhe des Hauptbahnhofs bekam ein Mann in der Mitte des Wagens einen Anfall von Platzangst. Er zitterte, stotterte einige Worte und kauerte sich zwischen die Leute auf den Boden. Die
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