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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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geben sich Japaner auch mit dem Müll. Die Japaner sprechen vermutlich als einziges Volk neben den Deutschen von »Wertstoffen«, und sie behandeln diese
kostbare Substanz entsprechend pfleglich. Wichtiger als die Liebe zur Umwelt ist dabei jedoch der soziale Druck. Was sollen die Nachbarn denken, wenn das Altpapier einfach so herumsteht? Manche japanische Hausfrau bügelt ihre alten Zeitungen, um sie schöner zusammenbinden zu können.
    Denn Mülltonnen gibt es nicht. In Tokio schlängeln sich die Straßen zu eng für so massive Gegenstände. Die Anwohner und Hausmeister stellen den Müll in genormten Plastiksäcken an die Straße, bevor die Müllabfuhr kommt. Das Gesetz schreibt transparente Müllsäcke vor - die Müllmänner können so den Inhalt besser kontrollieren. Brennbarer Müll geht an anderen Tagen weg als nicht brennbarer Müll, Papier, Dosen, Glas oder Plastikflaschen.
    Wie immer in Japan regiert in diesem System das geordnete Chaos. Der Verschluss einer Plastikflasche kann auf zwei Straßenseiten in zwei verschiedene Kategorien fallen, wenn sie zu zwei verschiedenen Stadtvierteln gehören. Für die einen ist Plastik brennbar, für andere nicht. Manchmal ändern sich die Regeln auch, wenn etwa eine künstlich aufgeschüttete Insel in der Bucht von Tokio fertig ist und dafür eine neue Müllverbrennungsanlage in Betrieb geht. Plötzlich gilt Plastik als brennbar.
    Ich saß staunend vor dem Fernseher und sah eine Sendung mit Tipps für Hausfrauen: Wie bekommen wir die alten Zeitungen so ordentlich gestapelt wie Frau Tanaka aus dem Einspielfilm?
    Tipp 1: die Schere. Die Musterhausfrau nimmt jeweils etwa zwölf Seiten der Zeitung, faltet sie übereinander und schneidet sie am Falz von jeder Seite einige Zentimeter ein.
Damit liegen die Faltkanten glatter, es ergibt sich beim Stapeln ein ordentlicheres Bild.
    Tipp 2: das Bügeleisen. Die wirklich gute Hausfrau bügelt die flach gelegten Zeitungsrechtecke platt. Dann legt sie schön die Faltkanten abwechselnd links und rechts übereinander und zählt die Lagen. Nur wenn die Stapel immer gleich hoch ausfallen, ergibt sich am Müllsammelplatz ein ordentliches Bild!
    Tipp 3: der Knoten. Nur wer den richtigen Trick kennt, kann die Stapel rutschsicher und leicht tragbar zusammenbinden. Es ergeben sich kompakte Blöcke von Zeitungspapier, in Draufsicht etwa so groß wie ein A4-Blatt. Schade nur, dass diese ebenmäßigen Kunstwerke alle in der Recyclinganlage geschreddert werden.
    Ein besonderes Objekt für den Eifer der Dame im Stockwerk unter mir ist die Milchpackung. Die brave Hausfrau schneidet sie an den Ecken auf, spült sie innen mit Spülmittel aus, hängt sie auf der Wäscheleine zum Trocken auf und stapelt sie zu Quadern. Die fertigen, piekfeinen Pakete - sauber und geruchlos - gibt sie dann bei der Recyclingstelle des Ortsamts ab.
    Mit den aufgehängten Milchpackungen, wie sie da stolz im Wind auf dem Balkon schaukeln, zeigt die Hausfrau ihre Sorgfalt. Ich schreibe Hausfrau, weil es ausschließlich um Frauen geht. Außer mir.
    Als guter Ausländer und vor allem als guter Deutscher wollte ich beim Mülltrennen nicht hinter den Nachbarn zurückstehen. »Was? Du wäschst und trocknest Tetrapaks?«, fragte Akiko mich verblüfft. Auf der Wäscheleine meines Balkons hingen vier Saftpackungen an Wäscheklammern.

    Doch die Preußen Ostasiens? An der Oberfläche sieht die Ordnungsliebe tatsächlich preußisch aus. Als Deutschen treibt mich jedoch die Grundneigung zu sinnloser Anstrengung manchmal in den Wahnsinn. Wirklich, manchmal möchte ich schreien, wenn ich das sehe. »Die Japaner bei uns halten sich sklavisch an die Regeln und die eingefahrenen Prozesse«, sagte mir ein deutscher Manager, dessen Unternehmen eine japanische Mittelstandsfirma gekauft hatte. »Ich würde mir da manchmal mehr gesunden Menschenverstand wünschen.«
    Aber wir Ausländer müssen mitmachen, ob wir wollen oder nicht. Die Japaner sind lieb und nett, wenn einer als Tourist kommt und die Stäbchen nicht richtig halten kann. Doch wenn einer wirklich mitspielen will, lassen sie ihn ganz schön spüren, was das heißt. Als loyaler Freund, guter Nachbar, verlässlicher Geschäftspartner oder treuer Angestellter gilt nur, wer sich reichlich ins Zeug legt - unabhängig vom Resultat.
    Japan schätzt Menschen am meisten, deren Kompromisslosigkeit sie in den Abgrund führt. Und die am Ende nichts vorzuweisen haben. Die größte Ehrfucht heben sie sich für Helden auf, deren Kampf sinnlos war.
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