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Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel
Autoren: Tina Sabalat
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nickte. »Gut. Es läuft folgendermaßen: Sie bleiben auf dem Sofa sitzen. Sie stehen nicht auf, Sie sagen nichts. Ich betrete den Raum durch die Tür zu Ihrer Rechten, und ich werde etwa zwanzig Sekunden bei Ihnen sein. Wenn es um ein genaues Datum geht, dauert es vielleicht ein wenig länger. Ich werde in dieser Zeit nichts sagen, und ich werde den Raum auch wieder verlassen, ohne etwas zu sagen. Ich werde Sie nur ansehen, und Sie müssen nichts weiter tun, als mich ebenfalls anzusehen. Wenden Sie ihr Gesicht nicht ab. Über die Antwort auf Ihre Frage werden wir anschließend sprechen – so, wie wir jetzt sprechen.«
    »Und die Antwort ist ... orakelig?«, bemerkte Sam mit einem schiefen Grinsen, welches eher Zeichen seiner Unsicherheit war denn ehrlich amüsiert.
    »Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen etwas mystifizieren«, bot ich an. »Aber normalerweise sage ich einfach, was passieren wird.«
    »Was Sie glauben, gesehen zu haben«, korrigierte Sam altklug, ich schüttelte den Kopf.
    »Was passieren wird. Und ein Hinweis noch: Ich werde wissen, was Sie zukünftig tun und was Sie sagen werden. Was mit Ihnen geschieht. Ich kann nicht sehen, was Sie denken oder was Sie empfinden. Natürlich kann man so etwas ableiten – wenn Sie einen Brief erhalten und ihn in Stücke reißen, könnte das aus Wut oder Enttäuschung geschehen. Wenn Sie damit jubelnd durch Ihre Wohnung laufen und am nächsten Tag in einem neuen Ferrari sitzen, könnte das auf Freude hindeuten. Verstehen Sie?«
    »Ja. Und ich könnte ein neues Auto gebrauchen.«
    »Können wir dann?«
    »Ja. Nein. Warten Sie ...« Ein Wuscheln durch die Haare. »Ach, was soll's. Legen Sie los. Es tut ja nicht weh, oder?«
    Nein, dir nicht, dachte ich, schüttelte als Antwort aber nur den Kopf und ging zur Tür. Ich vergewisserte mich mithilfe des Spions davon, dass Sam noch auf dem Sofa saß, und trat hinaus. Trotz meiner Anweisungen erhob er sich, kaum dass ich halb durch die Tür war. Alte Schule, dachte ich, diesen Reflex besitzen sonst nur Herren über sechzig.
    »Bleiben Sie sitzen«, verlangte ich, Sam ließ sich langsam zurück in das Polster sinken.
    »Sie sollen auch nicht reden«, fügte ich hinzu, als er den Mund bereits zum Protest öffnete.
    Sam presste die Lippen zusammen, was mich fast hätte Lächeln lassen. Fast, denn ich war schon in ihm und damit viel zu abgelenkt, um mir noch über Nebensächlichkeiten wie seinen oder meinen Gesichtsausdruck Sorgen zu machen. Sams Lippen hatten mich in ihn hinein gezogen, kaum, dass mein Blick auf sie gefallen war, und die Umgebung um mich herum reduzierte sich auf seinen warmen und feuchten Mundraum. Sams Zahnfleisch war glatt, seine Zunge nur wenig belegt. Seine Zähne fühlten sich so ebenmäßig an, wie sie aussahen: gesund, weiß, kräftig, sauber. Ich rutschte an ihnen vorbei, ließ sie wie ein schneebedecktes Gebirge in der Ferne zurück. Ich passierte das Zäpfchen, und als befände ich mich auf einer Achterbahnfahrt durch eine rosige Höhle rauschte ich abwärts, in seine Speiseröhre. Ein enger Schlauch wartete dort auf mich, fest und hart von den langen Muskelsträngen, die tagaus, tagein das Essen von oben nach unten beförderten. Und dunkel war es jetzt auch, ganz abrupt: Im Hals gab es keine Farben mehr, im Hals begann die Schwärze. Das Innere. Aber noch nicht die Innereien, zum Glück.
    Sam schluckte, und die Muskeln in seinem Hals beförderten mich weiter nach unten, drückten mich hinein in den Magen. Ich landete in einer breiigen Masse, sie quoll über mir zusammen wie ein zäher Sumpf. Ich spürte ihre gärige Wärme, ihre schleimig-glitschige Konsistenz auf meiner Haut, hatte ihren galligen Geschmack auf der Zunge und ihren Geruch in der Nase. Sam hatte heute Morgen zwei Mohnbrötchen mit Butter und Honig gegessen, Kaffee und Saft dazu getrunken. Kaffee mit Milch, Grapefruitsaft. Der Magen arbeitete auf Hochtouren daran, das Frühstück zu verdauen, ätzende Magensäfte spritzten aus den Drüsen, machten den Brei sauer: Aus Brötchen, Saft und Kaffee war eine graue, bittere Masse geworden, bereit für den nächsten Verdauungsschritt.
    Ich nahm all das in Sekundenbruchteilen war, schauderte unweigerlich – und war dennoch erstaunt, wie sauber Sam von innen war. Er stank, er zersetzte, ja. Aber nicht mehr, als nötig war, nicht mehr, als natürlich war. Und das war selten, die Mägen vieler meiner Kunden waren wahre Jauchegruben.
    Als ich festgestellt hatte, dass ich Sams Innenleben ... nun,
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