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Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel
Autoren: Tina Sabalat
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würde ich ihn empfangen. Nicht, weil das so üblich war. Nein, ganz und gar nicht, da hatte Frau Berger absolut recht. Besucher wurden nur mit Termin empfangen, so etwas wie Laufkundschaft ertrug ich nicht. Heute einer, morgen zehn, aneinandergereihte Bäder in fauligen Mägen – das war unmöglich. Was ich wusste, denn das hatte ich bereits versucht. Als meine Gebühr nur einen Bruchteil der heutigen betragen hatte, als ich es hatte lernen müssen. Das gezielte Sehen, vor allem aber, mich nicht immer und überall zu übergeben. Diese Zeit war vorbei, zum Glück. Zurückgeblieben war nur diese Übelkeit, erträglich, wenn auch nicht optimal.
    Wenn ich meine Kunden sonst so auf Abstand hielt, warum sollte ich Sam dann noch einmal empfangen? Und ihm helfen? Weil er sterben würde? Ja, denn eine Kugel in seinem Köpfchen könnte durchaus meinen Seelenfrieden stören. Könnte. Ich fragte mein Gewissen, aber es schwieg. Es hatte zu viele Tode gesehen und gestand sich keine spontane Regung mehr zu. Streng genommen hatte Sam von gestern noch Zeit übrig: Ich hatte ihm gesagt, was ich gesehen hatte, er hatte lauthals gelacht und war gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Der Termin hatte keine dreißig Minuten gedauert, und weil ich wegen des kühlen und chlorsauberen Wassers auf meiner Haut gerade milde gestimmt war, entschied ich, dass ich Sam die restlichen Minuten heute gewähren würde. Wenn er denn geduldig war.
     
    ***
     
    Er war geduldig. Als ich nach drei Stunden von meinem Haus zu dem von Frau Berger hinüberschlenderte, saß Sam immer noch auf der Treppe vor ihrer Haustür. Er hatte einen dunklen Fleck hinten auf dem Hemd, kleine Schweißtropfen glitzerten in seinem Nacken, in der Hand hielt er eine Zigarette.
    »Das ist schon die Achte«, flüsterte Frau Berger, als ich über ihre Schulter durch das Küchenfenster blickte. Ich ahnte, dass sie die vergangenen Stunden damit verbracht hatte, auf Sams schmalen Rücken zu starren und Angst vor dem zu haben, was die Nachbarn dachten. Vor dem Haus stand ein Oldtimer-Mustang in beklagenswertem Zustand, hoffnungslos schief eingeparkt – entweder war Sam ein miserabler Autofahrer oder er hatte es verdammt eilig gehabt, mit mir zu sprechen. Ich tippte auf Letzteres, denn dazu passte auch, dass er vor der Haustür hockte und nicht in seinem Wagen wartete: Die schleicht sich nicht ungesehen aus dem Haus, schien das zu besagen.
    »Er ascht in die Rosen.«
    »Und die Kippen schmeißt er in die Dahlien?«
    Frau Berger kniff die Lippen zusammen.
    »Lassen Sie ihn ein. In fünf Minuten. Und bringen Sie ihm kein Wasser.«
    »Sie wollen ihn empfangen? Ohne Termin? Das ist gegen alle Regeln«, bekräftigte Frau Berger, was ich wusste, weil ich die Regeln gemacht hatte.
    Ich antwortete nicht, sondern ging in mein stickiges Stübchen, dachte nicht zum ersten Mal daran, dort eine Klimaanlage installieren zu lassen und aktivierte Kameras und Computer. Das System brauchte drei Minuten, und als die zahlreichen Ansichten des Konsultationszimmers auf den Monitoren vor mir erschienen waren, hatte ich noch knappe zwei Minuten Zeit, um mein Berufslächeln aufzulegen, als wäre es ein Lipgloss. Dann ging die Tür auch schon auf und Sam trat ein.
    Er ging zielstrebig zum Sofa und setzte sich. Sein Bartschatten war ein wenig stärker geworden, unter seinen Augen lagen bläuliche Ringe, auf seiner Brust zeichneten sich ebenfalls Schweißflecken ab: Er sah erschöpft aus, gereizt und unausgeschlafen.
    »Was soll der Scheiß?«, fragte er statt einer Begrüßung mit einer Geste zum Monitor. »Können Sie nicht normal mit mir reden?«
    »Nein«, antwortete ich. »Seien Sie froh, dass ich Ihnen diese Zeit gebe, vergeuden Sie sie nicht mit nutzlosem Gemecker. Sie haben noch genau 34 Minuten, die sind von Ihrer Stunde gestern übriggeblieben.«
    Sam sah finster in die Kamera.
    »Ich möchte wissen, wer dieses Spielchen hier veranstaltet«, verlangte er. »Wer Ihnen aufgetragen hat mir zu sagen, dass ich sterben werde. Dass ich erschossen werde.«
    »Niemand«, antwortete ich. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich in Ihnen gesehen habe. Und das ist das, was passieren wird. Betrachten Sie Sehen und Passieren als Synonyme.«
    »Ja, genau«, ätzte er. »Und morgen kommt der Weihnachtsmann.«
    »Nein«, entgegnete ich ungerührt, »zumindest nicht zu Ihnen. Das hätte ich gesehen.«
    »Sarkastisch sind Sie also auch noch«, schnappte Sam. »Aber ich glaube Ihnen kein Wort. In die Zukunft sehen – wenn Sie selber
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