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Toedliche Blumen

Toedliche Blumen

Titel: Toedliche Blumen
Autoren: Wahlberg
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verhindern, dass er überall, wo er stand und ging, Blutspuren hinterließ. Auch am rechten Daumen prangte ein Salvekvick. Die kleineren Schnitte verpflasterte er nicht. Ehrlich gesagt, war er ziemlich stolz darauf, dass er überhaupt so etwas wie Pflaster zu Hause hatte und die Schachtel sogar fast auf Anhieb im Badezimmerschrank fand.
    Er fuhr sich mit dem Rasiermesser über die Wange. In dem grellen Licht zogen sich seine Pupillen schmerzhaft zusammen. Verdammt alt geworden, dachte er. Jede Runzel oder schlaff herabhängende Hautpartie und nicht zuletzt jede einzelne Falte trat mit einer Deutlichkeit hervor, auf die er nicht gefasst war. Oder die er nicht wahrhaben wollte. Der Anblick war schonungslos. Vor allem die Augenlider und die Bereiche um die Mundwinkel herum, befand er. Er schob das Gesicht weiter vor, bis seine Nase das kalte Spiegelglas berührte. Die Poren waren gröber geworden, tiefer und dunkler. Ergraute Bartstoppeln, die aus der schuppigen, nach der warmen Dusche leicht rot gefleckten Haut hervortraten, boten aus nächster Nähe einen nahezu grotesken Anblick.
    Kjell E. Johanssons Augen waren blau. Ein Vorteil, den er sich eifrig zunutze machte. Unschuldige blaue Augen, die gerne lächelten. Die Frauen fuhren regelrecht auf ihn ab. Sie liefen oftmals ohne längere Bedenkzeit geradewegs in seine robusten Arme.
    Doch angesichts seines eigenen Spiegelbildes war ihm das Lachen vergangen. Auch sein Blick überzeugte im Moment keineswegs. Also spreizte er die Lippen und begutachtete kritisch seine Zähne. Er erschrak über seinen eigenen Atem – ein abgestandener Geruch nach vergammeltem Fisch schlug ihm entgegen. Ein weiteres Zeichen für seinen allmählichen Verfall oder wenigstens dafür, dass selbst vor ihm das Alter nicht Halt machte. Deshalb versuchte er, während der nachfolgenden Gesichtsgymnastik die Luft anzuhalten. Er runzelte die Stirn, weitete die Nasenlöcher, zog die Oberlippe hoch und schob schließlich die Unterlippe vor, um sowohl die obere als auch die untere Zahnreihe inspizieren zu können. Noch einmal beugte er sich zum Spiegel vor und untersuchte minuziös die Zahnoberflächen. Nicht ohne eine gewisse Bitterkeit konstatierte er, dass sich das Zahnfleisch so weit zurückgebildet hatte, dass die Zahnhälse frei lagen und die Emaillefüllungen darüber seinem Gebiss zweifelsohne einen etwas antiken Charakter verliehen.
    Es kam ihm vor, als ob er zum ersten Mal ernsthaft begriff, dass das halbe Leben bereits vorbei war und deutliche Spuren hinterlassen hatte.
    Vielleicht sollte ich vorsichtshalber doch meine Brille tragen, dachte er und drückte mehr Rasierschaum auf die Wange. Die Schnittwunden mussten ja nicht unbedingt noch zahlreicher werden. Doch wo seine Brille lag, wusste er nicht. Wahrscheinlich im Handschuhfach seines Autos. Er benutzte sie selten, im Prinzip nur dann, wenn er sich gezwungen sah, die Rechnungen seiner Firma durchzugehen, mit der er sich seit ein paar Jahren notdürftig über Wasser hielt. Fensterputzen. Die Büroarbeit, die bei seinem Job anfiel, nämlich debitieren und kreditieren, hielt sich in erträglichen Grenzen. Die Bezahlung ging meistens bar und ohne Rechnung vonstatten. Ein Arrangement, mit dem im Prinzip alle Beteiligten zufrieden waren. Die Firma regulär zu führen hätte sich kaum gelohnt. Und ein weiterer Arbeitsloser würde der ohnehin angespannten Wirtschaftslage seines Landes wohl kaum dienen.
    Das Rasiermesser glitt über die Wangen und bahnte sich einen Weg durch den Schaum wie ein Schneepflug auf einem verschneiten Winterweg. Es war gerade erst fünf Uhr nachmittags. Er hatte keine Eile und war froh, dass er nicht hetzen musste und es wenigstens jetzt langsam angehen lassen konnte. Er legte das Messer für einen Augenblick aus der Hand und nahm den letzten Schluck aus der Bierdose, die er geöffnet und auf den Rand des Waschbeckens gestellt hatte, um die Sache mit den Glassplittern überhaupt einigermaßen bewältigen zu können. In seinem Magen gluckerte es. Ein Rülpser drängte heraus.
    In der letzten Zeit schienen viele Ereignisse aus der Vergangenheit wieder an die Oberfläche zu dringen, was ihn nachdenklich stimmte. Einiges davon erforderte seine Stellungnahme. Es handelte sich keineswegs nur um finanzielle Entscheidungen. Außerdem hatte sie wieder angerufen. Was für ein Gezeter.
    Er spülte das Rasiermesser mit heißem Wasser ab. Kjell E. Johansson war achtundvierzig Jahre alt, wäre jedoch gern zwanzig Jahre jünger gewesen.
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