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Toedliche Blumen

Toedliche Blumen

Titel: Toedliche Blumen
Autoren: Wahlberg
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außer dem gewaltigen Lärm einen ungeheuer starken Luftzug verursacht, der sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte und ihr Todesängste einflößte. Sie dachte unmittelbar, dass nun ihr letztes Stündchen geschlagen hätte. Als ihr die Bedeutung ihres Gedankens bewusst wurde, bekam sie noch größere Angst und bremste panisch, soweit das mit nur einer Hand am Lenker möglich war. Mit der anderen Hand umschloss sie krampfhaft den Karton, den sie auf keinen Fall verlieren wollte.
    Das Motorrad war längst in der Ferne verschwunden, als Viktoria verzweifelt versuchte, der Gehwegkante auszuweichen. Das Vorderrad schlenkerte außer Kontrolle hin und her und prallte schließlich unbarmherzig mit einem schrillen Quietschen gegen den Kantstein. Ein harter Stoß durchfuhr ihren Körper, der Karton wirbelte durch die Luft – sie kniff die Augen zusammen und dachte eine Millisekunde lang an all die Maiblumen und das Geld, für das sie Rechenschaft würde ablegen müssen, was sollte sie nur tun? –, dann bohrte sich der Lenker in ihre Magengrube, es begann vor Schmerz in ihrem Bauch zu brennen, und ihr wurde gleichermaßen übel und schwindelig. Ihr Kopf wurde heftig nach vorn gerissen, und schon krachte der Fahrradhelm dumpf auf den Asphalt.
    Der nachfolgende Schmerz glich einer Explosion in ihrem Inneren. Die Welt begann sich zu drehen, und ihr Herz schlug wie in wilden Trommelwirbeln.
    Als sie schließlich wie gelähmt auf der Straße lag, trat merkwürdigerweise für einen Augenblick ein hoffnungsvoller Gedanke in ihr Bewusstsein. Über ihr ergoss sich ein Lichtstrahl wie auf dem Altarbild in der Kirche, in der sie ihren Schuljahresabschluss gefeiert hatte. Sicherlich war sie nicht das todgeweihte Lamm, so schlimm stand es wahrscheinlich nicht um sie, denn dann hätte sie jetzt wohl überhaupt nichts mehr gespürt. Weder das Herzklopfen noch den Schmerz. Ein Toter hat keine Gefühle mehr, hatte Mama ihr erklärt, als Opa gestorben war und so merkwürdig wächsern ausgesehen hatte. Auf dem weißen Laken hatte sein Mund wie ein schwarzer Strich im Gesicht gewirkt.
    Aber vielleicht sollte sie, bevor sie starb, erst noch gepeinigt und gequält werden, wie alle Kinder, die als Verkehrsopfer endeten oder gelähmt oder nicht ganz richtig im Kopf waren. Kinder, die sie im Fernsehen gesehen oder von denen sie in Zeitschriften gelesen hatte.
    Völlig unbeweglich lag sie auf dem rauen, kalten Asphalt und fühlte sich wie das einsamste Kind auf der Welt. Warum kam keiner und half ihr? Irgendein Erwachsener. Oder ein Engel. Oder wenigstens ein Kind wie sie selbst. Notfalls würde sie auch mit einem kleinen Kind vorlieb nehmen. Wie auch immer, Hauptsache, überhaupt jemand kam!
    Sie räusperte sich und versuchte, einen Ton hervorzubringen, um zu testen, ob sie um Hilfe schreien könnte. Doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Außerdem verspürte sie einen ekligen Blutgeschmack im Mund, und ihre Zunge, die ziemlich pochte, fühlte sich geschwollen an. Sie spuckte und schnaufte, während ihr der warme Speichel langsam das Kinn hinablief. Angewidert verzog sie das Gesicht und warf den Kopf vor und zurück, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, während der Klumpen in ihrem Hals wuchs.
    Mama! Wo bist du?
    Und wenn sie nun so schwer verletzt war, dass sie für den Rest des Lebens behindert wäre? Nicht gehen konnte, sondern an den Rollstuhl gefesselt sein würde? Und keiner kam ihr zu Hilfe.
    Mama würde es noch bereuen. Sie hätte hier bei ihr sein müssen und nicht bei ihrer Arbeit mit den Alten. Sogar über Gunnars Anwesenheit hätte sie sich in diesem Moment gefreut. Denn er hätte sie auf der Stelle ins Auto gesetzt, die Heizung aufgedreht und sie nach Hause gefahren.
    Behindert! Bei dem Gedanken daran wurde ihr angst und bange. Voller böser Vorahnungen versuchte sie, ihren Körper abzutasten. Dabei musste sie jedoch feststellen, dass ihr Fahrrad auf ihr lag und sie wie in einer Mausefalle einklemmte. Sie griff nach dem Rahmen und rüttelte und zog, um ihn wegzuschieben, doch es gelang ihr nicht. Die Kräfte, die nach und nach wiedergekehrt waren, verließen sie erneut. Sie ließ resigniert den Kopf sinken, kniff die Augen zusammen und versuchte, das Geschehene zu verdrängen. Den wolkenverhangenen Himmel, den groben Straßenbelag, ihren schmerzenden Bauch und das aufgeschlagene Knie. Und schließlich, dass sie allein, mutterseelenallein war.
    Es könnte ja sein, dass ihr im Tod etwas Schönes begegnete. Zum
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