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Toedliche Blumen

Toedliche Blumen

Titel: Toedliche Blumen
Autoren: Wahlberg
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hässliche Wörter benutzte. Obwohl es stimmte.
    Ein wenig leer war es dennoch geworden, seitdem er nicht mehr bei ihnen wohnte. Er hatte ja auch das Auto mitgenommen. Eigentlich waren sie nun keine normale Familie mehr. Jetzt holte sie niemand mehr ab, wenn es nötig war, so wie andere Papas es normalerweise taten. Jedenfalls Linas Papa. Er nahm seinen Ford und holte alle Kinder ab. Deshalb seien die meisten Kinder auch so dick. Es sei wichtig für Kinder, sich zu bewegen, antwortete Mama jedes Mal leicht säuerlich, wenn Viktoria darauf zu sprechen kam. Also war es keine gute Idee, sich zu beschweren, jedenfalls nicht, solange es sich sowieso nicht ändern ließ und sie kein Auto besaßen.
    Die neue Jacke war kurz. Ganz plötzlich kam eine eiskalte Windbö und blies ihr gegen den Bauch, wirbelte um den Nabel herum und kroch bis weit unter den Pulli. Sie hatte schon eine Weile überlegt, wie sie Lina würde überreden können, den Maiblumenverkauf an einen anderen Ort zu verlegen, an dem es nicht so kalt und windig war. Oder vielleicht sogar nach Hause zu fahren und am nächsten Tag weiterzumachen, auch wenn sie damit riskierten, dass andere Klassenkameraden ihnen zuvorkamen. Sie hatten beide noch einige Blumen in ihren Schachteln, auch wenn Kvantum ein guter Standort war. Die Nachbarn hatten sie bereits abgeklappert, und die Straßenzüge der näheren Umgebung gehörten zu den Verkaufsbereichen der anderen Klassenkameraden. Es war Linas Idee gewesen, so weit rauszufahren, und Viktoria war überzeugt davon, dass sie nicht so schnell nachgeben würde.
    Ihre blau gefrorenen Finger schlossen sich fest um den kleinen Karton. Sie zog eine große Autoblume hervor und hielt sie einer älteren Dame hin, die einen karierten Einkaufstrolley hinter sich herzog.
    »Darf es eine Maiblume sein?«, fragte Viktoria mit dem tapfersten Lächeln, das sie aufbieten konnte.
    Die Dame schaute sie abwesend an und zuckelte mit ihrem Trolley an den beiden Mädchen vorbei. Viktoria reagierte enttäuscht. Sie war sauer und fand es ziemlich unsinnig, noch länger zu bleiben. Keiner schenkte ihnen und ihren Maiblumen Aufmerksamkeit. Das musste selbst Lina einsehen. Verdammt!
    Genau in dem Moment, als sie den Mund öffnen wollte, um Lina zu überreden, blieb die ältere Dame stehen und machte umständlich ein paar Schritte mit ihrem Wägelchen zurück.
    »Ich hätte doch gern eine von diesen Maiblumen«, sagte sie genauso schwerfällig, wie sie sich bewegte, und schaute mit freundlichen, vom beißenden Wind tränenden Augen in die Schachtel. »Aber so eine reicht mir«, fügte sie hinzu und zeigte mit einem zittrigen Finger auf eine einfache Blume. »Es ist ja immerhin bald Frühling, auch wenn man es heute kaum glauben kann«, zwinkerte sie Viktoria zu.
    Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Portemonnaie griffbereit hatte. Viktoria wartete. Die alte Dame hatte weißes Haar und trug eine dunkelbraune, wollene Baskenmütze, die schief auf ihrem Kopf saß. Viktoria half ihr, die Blume am Mantelkragen zu befestigen. Währenddessen musterte die Dame sie eingehend, sodass Viktoria ein wenig unsicher wurde.
    »Aber ihr lieben kleinen Kinder«, sagte die Dame, obwohl sie eigentlich nicht mehr besonders klein waren. Jedenfalls Lina nicht. »Ist es nicht viel zu kalt, hier so lange zu stehen?«
    Die alte Dame befühlte den dünnen Stoff von Viktorias Jacke. Viktoria wollte im Erdboden versinken, so unglaublich peinlich war ihr das Ganze. Als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Doch bevor sie etwas erwidern konnte – zum Beispiel, dass ihr keineswegs kalt war –, hatten sich die automatischen Eingangstüren des Supermarktes bereits hinter der Dame geschlossen.
    Eine weitere halbe Stunde verging. Oder vielleicht auch ein bisschen mehr oder weniger. Jedenfalls kamen heftigere Windböen auf, der Himmel hatte sich grauviolett verfärbt, und ihre Hände sahen inzwischen bläulich weiß aus, wie bei Sterbenden. Sie konnten ja keine Handschuhe anziehen, wenn sie Geld zählen und Wechselgeld zurückgeben mussten. Außerdem hatten sie auch gar keine dabei. Sie hatten nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Es war doch Frühling!
    Viktoria und Lina inspizierten ihre Schachteln. In Viktorias befanden sich noch fünf Autoblumen, vier Kränze und ein paar einzelne Blumen, die auf dem Boden des Kartons raschelten. Die meisten waren also verkauft. Ein Teil der Einnahmen würde in einen gemeinsamen Topf fließen, der für eine Klassenreise vorgesehen war.
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