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Tödliche Absicht

Tödliche Absicht

Titel: Tödliche Absicht
Autoren: Lee Child
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Belustigung und eine Menge Selbstvertrauen. Er machte einen halben Schritt nach links, und sie taten es ihm gleich. Dann trat er etwas näher auf sie zu und verkleinerte so das Dreieck. Er hob eine Hand und strich sein vom Wind zerzaustes Haar glatt.
    »Besser wär’s, wenn ihr jetzt abhauen würdet«, sagte er.
    Aber das wollten die beiden natürlich nicht. Sie reagierten auf seine Herausforderung, indem sie unmerklich etwas näher an ihn heranrückten – durch eine winzige Gewichtsverlagerung nach vorn. Sie müssen für ungefähr eine Woche außer Gefecht gesetzt werden, überlegte er. Am besten die Wangenknochen. Ein harter Schlag, Kompressionsbrüche, vielleicht mit zeitweiliger Bewusstlosigkeit, starke Kopfschmerzen. Keine allzu schweren Verletzungen. Er wartete den nächsten Windstoß ab, hob die rechte Hand und strich seine Haare hinter das linke Ohr. Dann ließ er die Hand mit hochgerecktem Ellbogen am Kopf, als sei ihm gerade etwas eingefallen.
    »Könnt ihr schwimmen, Jungs?«, fragte er.
    Keinen Blick aufs Meer zu werfen hätte übermenschlicher Selbstbeherrschung bedurft. Die beiden waren keine Übermenschen. Sie drehten die Köpfe wie Roboter zur Seite. Er traf den Kerl rechts im Gesicht, riss den Ellbogen nochmals hoch und traf den links, als er den Kopf ruckartig dem knackenden Geräusch zuwandte, mit dem die Knochen seines Kumpels brachen. Sie gingen zusammen zu Boden; ihre Münzrollen platzten auf, und Geldstücke rollten und kreiselten durcheinander. Reacher hustete und rekapitulierte den Ablauf: zwei Kerle, zwei Sekunden, zwei Rammstöße, Schluss der Vorstellung. Du kannst es noch immer. Er atmete tief durch und wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. Dann ging er davon. Trat von der Pier auf den Broadwalk und machte sich auf die Suche nach der hiesigen Western-Union-Filiale.
    Er hatte die Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen, aber eigentlich brauchte er sie nicht. Eine Western-Union-Filiale konnte man nach Gefühl finden. Das war ein einfacher Algorithmus. Man stand an einer Straßenecke und fragte sich: Liegt sie von hier aus gesehen eher rechts oder links? Dann ging man je nach Antwort rechts oder links weiter, gelangte ziemlich rasch ins richtige Viertel und stand ziemlich bald vor der Western Union. Vor dem Eingang dieser Filiale parkte ein zwei Jahre alter Chevy Suburban direkt neben einem Hydranten. Der frisch gewaschene Van war schwarz, hatte dunkel getönte Scheiben und war auf Hochglanz poliert. Aus seinem Dach ragten drei kurze Funkantennen. Besetzt war er mit einer blonden Frau am Steuer. Nach einem ersten flüchtigen Blick sah Reacher noch einmal genauer hin. Die Blondine wirkte locker und zugleich wachsam. Das war daran zu erkennen, wie sie den linken Arm auf die Türverkleidung stützte. Und sie war attraktiv, gar kein Zweifel. Von ihr ging eine Art Magnetismus aus. Er sah wieder weg, betrat die Filiale und holte sein Geld ab. Steckte die Scheine zusammengefaltet ein, kam wieder heraus und traf die Frau auf dem Gehsteig an, wo sie sich vor ihm aufbaute und ihn anstarrte. Und zwar so, als vergleiche sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit einem vor ihrem inneren Auge stehenden Bild. Das war ein Vorgang, den er kannte. So war er schon mehrmals gemustert worden.
    »Jack Reacher?«, fragte sie.
    Er kramte nochmals in seinem Gedächtnis, weil er sich nicht irren wollte, obwohl er das für wenig wahrscheinlich hielt. Kurzes blondes Haar, schöne Augen, die ihn unverwandt ansahen, Selbstbewusstsein in ihrer Haltung. Sie besaß Eigenschaften, an die er sich erinnert hätte. Aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Folglich hatte er diese Frau noch nie gesehen.
    »Sie haben meinen Bruder gekannt«, sagte er.
    Sie wirkte überrascht und leicht erfreut. War im Augenblick um Worte verlegen.
    »Das kenne ich«, fuhr er fort. »Wenn Leute mich so ansehen, denken sie, dass wir uns sehr ähnlich sehen, aber doch ganz verschieden sind.«
    Sie schwieg.
    »Freut mich, Sie kennen gelernt zu haben«, sagte er und ging davon.
    »Warten Sie!«, rief sie ihm nach.
    Er blieb stehen, drehte sich um.
    »Können wir miteinander reden?«, fragte sie. »Ich habe Sie gesucht.«
    Reacher nickte. »Wir könnten im Auto reden. Hier friert man sich den Arsch ab.«
    Sie blieb noch einen Moment stehen, während sie sein Gesicht musterte. Dann setzte sie sich plötzlich in Bewegung und öffnete die Beifahrertür.
    »Bitte«, sagte sie. Er stieg ein. Sie ging um den Wagen herum und nahm auf ihrer Seite im Auto
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