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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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doch wenn nötig, gehe ich auch nach China.«
    »China ist schlecht«, wiederholt Vern. »Da stirbst du.«
    Ich stelle meine Schale auf den Boden. »May, kannst du mir Geld leihen?«
    Sie zögert nicht. »Klar, aber ich weiß nicht, ob ich genug habe.«
    Wie sollte sie auch, wenn sie ihr Geld immer für Kleidung, Schmuck, Vergnügungen und ihr schickes Auto ausgibt? Ich verdränge diese Gedanken und rufe mir in Erinnerung, dass sie Geld zum Kauf dieses Hauses beigesteuert und Joys Ausbildung mitfinanziert hat.
    »Ich auch«, sagt Vern. »Bringt mir Schiffe! Viele Schiffe!«
    May und ich sehen uns an, ohne zu verstehen.
    »Ich brauche Schiffe!«
    Ich gebe ihm das mir nächste Modellschiff. Er nimmt es und wirft es zu Boden. Das Modell zerschellt. Darin liegt ein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel Geldscheine.
    »Mein Geld aus dem Familientopf«, sagt Vern. »Noch mehr Schiffe! Bringt mir mehr!«
    Schon bald werfen wir drei Verns Sammlung von Modellschiffen, -flugzeugen und -rennwagen auf den Boden. Der alte Mann war zwar geizig und sparsam, aber immer gerecht. Natürlich gab er Vern seinen Anteil aus dem Familientopf, selbst nachdem sein Sohn bettlägerig wurde. Doch anders als der Rest von uns hat Vern sein Geld nie ausgegeben. Ich kann mich nur an eine Gelegenheit erinnern, da ich ihn mit eigenem Geld bezahlen sah: als er mit May, Sam, Joy und mir in der Straßenbahn zum Strand fuhr, unser erstes Weihnachten in Los Angeles.
    May und ich sammeln die Geldscheine auf und zählen sie
auf Verns Bed. Es ist mehr als genug für ein Flugzeugticket und reicht sogar für Schmiergelder, falls die nötig sein sollten.
    »Ich komme mit«, sagt May. »Zu zweit haben wir immer alles besser geschafft.«
    »Du musst hierbleiben. Du musst dich um Vern, ums Café, das Haus, die Ahnen kümmern...«
    »Was ist, wenn du Joy findest und die Behörden dich nicht wieder aus dem Land lassen?«, fragt May.
    Sie macht sich Sorgen. Vern macht sich Sorgen. Und ich habe eine Riesenangst. Wir wären dumm, wenn wir das nicht täten. Ich gestatte mir ein schwaches Lächeln.
    »Du bist meine Schwester, und du bist sehr schlau. Du wirst von Amerika aus daran arbeiten.«
    Noch während meine Schwester das hört, kann ich regelrecht sehen, wie sie im Kopf eine Liste erstellt.
    »Ich rufe noch mal Betsy und ihren Vater an«, sagt sie. »Und dann schreibe ich an Vizepräsident Nixon. Der hat schon anderen Leuten geholfen, aus China herauszukommen, als er noch Senator war. Ich sorge dafür, dass er uns hilft.«
    Ich denke: Das wird nicht leicht werden . Noch einmal: Ich bin keine amerikanische Staatsbürgerin, ich habe keinen Reisepass. Und wir haben es mit Rotchina zu tun. Doch ich muss daran glauben, dass May alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um Joy und mich aus China herauszuholen, denn das hat sie ja schon einmal geschafft.
    »Ich habe die ersten einundzwanzig Jahre meines Lebens in China und die letzten zwanzig in Los Angeles verbracht«, sage ich, und die Kraft in meiner Stimme zeugt von meiner Entschlossenheit. »Ich habe nicht das Gefühl heimzukehren. Ich habe das Gefühl, meine Heimat zu verlieren. Ich verlasse mich darauf, dass Joy und ich etwas haben, wohin wir zurückkehren können.«
    Am nächsten Tag packe ich meinen Reiseausweis ein, der mir auf Angel Island ausgehändigt wurde, dazu die Bauernkleidung, die May mir für die Flucht aus China gekauft hatte. Ich nehme
ein Foto von Sam mit, das mir Mut machen soll, und von Joy, das ich den Menschen zeigen will, die ich treffe. Ich gehe zum Familienaltar und verabschiede mich von Sam und den anderen. Mir fällt etwas ein, was May vor ein paar Jahren gesagt hat: Alles kehrt immer zum Anfang zurück . Als ich nun diese neue Reise antrete, verstehe ich endlich, was sie damit meinte - Fehler werden nicht nur wiederholt, sondern man bekommt auch die Möglichkeit, sie wiedergutzumachen. Vor zwanzig Jahren verlor ich meine Mutter auf der Flucht aus China; jetzt kehre ich als Mutter nach China zurück, um vieles, so vieles wiedergutzumachen. Ich öffne das kleine Kästchen, in das Sam das Beutelchen von Mama gelegt hat. Ich hänge es mir um den Hals. Schon einmal hat es mich auf meinen Reisen beschützt, und so hoffe ich auch, dass der Beutel, den May Joy vor ihrer Abreise zum College schenkte, ihr jetzt hilft.
    Ich verabschiede mich vom Kind-Mann und bedanke mich bei ihm, dann fährt mich May zum Flughafen. Während Palmen und Stuckhäuser an den Fenstern vorbeiziehen, gehe ich noch
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