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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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dir anbot, Joy eine Weile zu nehmen, hast du immer abgelehnt.«
    »Das stimmt nicht. Du durftest sie mit zu Dreharbeiten nehmen …«
    »Und dann hast du mir nicht mal diese kleine Freude mehr gegönnt«, sagt May traurig. »Ich habe Joy geliebt, aber dir war sie eine Last. Du hast eine Tochter. Ich habe nichts. Ich habe alles verloren - meine Mutter, meinen Vater, mein Kind...«

    »Und ich wurde von so vielen Männern vergewaltigt, dass ich dich nicht beschützen konnte!«
    Meine Schwester nickt, als hätte sie diesen Satz von mir erwartet. »Jetzt höre ich also auch noch von diesem Opfer? Wieder einmal?« Sie holt Luft. Ich sehe, dass sie sich zu beruhigen versucht. »Du bist erregt. Das verstehe ich. Aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was mit Sam geschehen ist.«
    »Natürlich hat es das! Alles zwischen uns hat entweder mit deinem unehelichen Kind zu tun oder mit dem, was die Affenmenschen mir angetan haben.«
    Die Muskeln in Mays Hals spannen sich an, und ihre Wut brüllt zurück, meiner ebenbürtig. »Wenn du wirklich über diese Nacht reden willst, gut, ich habe nämlich viele Jahre darauf gewartet. Niemand hatte dich gebeten, da raus zu gehen. Mama hatte dir eingeschärft, dass du bei mir bleiben solltest. Sie wollte, dass du in Sicherheit bist. Du bist diejenige, mit der sie in Sze Yup sprach, der sie flüsternd ihre Liebe gestand, wie sie es so oft tat, damit ich es nicht verstand. Doch ich begriff durchaus, dass sie dich so sehr liebte, um liebevolle Worte zu dir zu sagen und nicht zu mir.«
    »Du verdrehst die Wahrheit, wie immer, aber es funktioniert nicht. Mama liebte dich so sehr, dass sie sich allein diesen Männern stellte. Das konnte ich nicht zulassen. Ich musste ihr helfen. Ich musste dich schützen.« Während ich spreche, kommen mir Erinnerungen an jene Nacht vor Augen. Wo auch immer Mama jetzt ist, nimmt sie all das wahr, was ich für meine Schwester geopfert habe? Liebte Mama mich? Oder war Mama in ihren letzten Minuten ein letztes Mal enttäuscht von mir? Doch ich habe keine Zeit, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, denn meine Schwester steht vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, das schöne Gesicht wutverzerrt.
    »Das war eine Nacht! Eine Nacht in einem ganzen Leben! Wie lange hast du das benutzt, Pearl? Wie oft hast du das benutzt, um keine Nähe zwischen Sam und dir, zwischen Joy und dir aufkommen
zu lassen? Als du damals im Krankenhaus immer wieder in Ohnmacht fielst, hast du mir einiges erzählt, an das du dich offenbar nicht mehr erinnern kannst. Du sagtest, Mama hätte gestöhnt, als du in den Raum mit den Soldaten kamst. Du dachtest, sie wäre erzürnt, weil du nicht bei mir bliebst. Ich glaube, da hast du dich geirrt. Es muss ihr das Herz gebrochen haben, dass du nicht in Sicherheit bliebst. Du bist selbst Mutter. Du weißt, dass das stimmt.«
    Das trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. May hat recht. Wenn Joy und ich in so einer Situation wären …
    »Du glaubst, du seist mutig gewesen und hättest unglaublich viel geopfert«, fährt May fort. Ich höre weder Vorwurf noch Hohn in ihrer Stimme, nur unbarmherzige Qualen, als sei sie diejenige, die gelitten habe. »Doch in Wirklichkeit warst du der Feigling: ängstlich, schwach und unsicher in all den Jahren. Nicht einmal hast du gefragt, was damals noch in dieser Hütte passiert ist. Nicht einmal hast du daran gedacht, mich zu fragen, wie es war, Mama in meinen Armen sterben zu sehen. Hast du auch nur einmal überlegt, wo, wie und ob sie überhaupt begraben wurde? Was glaubst du eigentlich, wer sich darum gekümmert hat? Wer, glaubst du, hat uns von dieser Hütte fortgebracht, als es nur vernünftig gewesen wäre, dich zum Sterben zurückzulassen?«
    Ihre Fragen gefallen mir nicht. Noch weniger gefallen mir die Antworten, die durch meinen Kopf rasen.
    »Ich war gerade achtzehn Jahre alt«, fährt May fort. »Ich war schwanger und hatte Angst. Trotzdem habe ich dich in dem Schubkarren geschoben. Ich habe dich ins Krankenhaus gebracht. Ich habe dir das Leben gerettet, Pearl, doch nach all diesen Jahren bist du immer noch voller Groll, Angst und Vorwürfe. Du glaubst, du hättest so viel geopfert, um dich um mich zu kümmern, aber deine Opfer waren nur Ausreden. Ich bin diejenige, die Opfer gebracht hat, um dir zu helfen.«
    »Das ist eine Lüge.«
    »Ach, ja?« May hält kurz inne und fährt dann fort: »Hast du
auch nur einmal darüber nachgedacht, wie das Leben für mich hier ist? Jeden Tag meine Tochter zu
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