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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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sehen, aber immer auf Abstand gehalten zu werden? Oder das, was Eheleute tun, mit Vern machen zu müssen? Denk mal darüber nach, Pearl. Er konnte nie ein richtiger Ehemann sein.«
    »Was sagst du da?«
    »Dass wir nur wegen dir an diesem Ort geblieben sind, der dir angeblich so viel Leid beschert hat.« Die Kampfeslust verlässt ihre Stimme, und ihre Worte graben sich tief in mich, erschüttern mich bis ins Mark. »Du hast dich von einer Nacht, von einer einzigen, schrecklichen, tragischen Nacht jagen lassen. Und ich als deine moy moy bin dir gefolgt. Weil ich dich liebe und weil ich weiß, dass du für alle Zeit Schaden genommen hast und nie wieder die Schönheit und das Glück des Lebens sehen kannst.«
    Ich schließe die Augen und versuche mich zu beruhigen. Ich möchte diese Stimme nie wieder hören. »Würdest du bitte einfach gehen?«, sage ich.
    Aber May ist noch nicht fertig mit mir. »Gib mir nur eine ehrliche Antwort: Wären wir hier in Amerika, wenn es nicht um dich ginge?«
    Schneidend wie ein Messer bohrt sich ihre Frage in mich, weil so viel von dem, was sie gesagt hat, wahr ist. Doch ich bin immer noch so wütend und verletzt, weil sie Sam verraten hat, dass ich ihr die gehässigste Antwort gebe: »Mit Sicherheit! Wir wären nicht hier in Amerika, wenn du nicht das, was Eheleute tun, mit irgendeinem namenlosen Kerl getan hättest! Wenn du mich nicht gezwungen hättest, dein Kind zu nehmen...«
    »Das war kein namenloser Kerl«, sagt May mit einer Stimme so weich wie Wolken. »Es war Z. G.«
    Ich dachte, ich sei schon so stark verletzt, dass ich etwas Schlimmeres nicht ertragen würde. Ein Fehler.
    »Wie konntest du nur! Wie konntest du mir das bloß antun? Du weißt, dass ich Z. G. liebte.«
    »Ja, das weiß ich«, gibt sie zu. »Z. G. fand das witzig - wie du
ihn bei unseren Sitzungen angehimmelt hast, deine schmachtenden Blicke -, aber mir war dabei schrecklich zumute.«
    Ich taumle zurück. Ein Verrat nach dem anderen.
    »Das ist doch wieder nur gelogen von dir.«
    »Ja? Joy hat es erkannt: Wer hatte das rote Gesicht einer Bäuerin auf den Titelbildern von China Reconstructs, und wessen Gesicht war mit Liebe gemalt?«
    Während May spricht, purzeln Bilder aus der Vergangenheit durch meinen Kopf: May, die ihren Kopf beim Tanzen an Z. G.s Brust lehnt, Z. G., der noch ihre kleinste Haarsträhne malt, der Pfingstrosen um ihren nackten Körper drapiert …
    »Es tut mir leid«, sagt sie. »Das war gemein. Ich weiß, dass du ihn all die Jahre in deinem Herzen hattest, aber es war eine Mädchenliebe aus alter Zeit. Siehst du das denn nicht? Z. G. und ich...« Ihre Stimme fängt sich. »Du hattest ein ganzes Leben mit Sam. Z. G. und ich hatten nur ein paar Wochen.«
    »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
    »Ich wusste, dass du Gefühle für ihn hegtest. Deshalb sagte ich nichts. Ich wollte dir nicht wehtun.«
    Und auf einmal begreife ich, was seit zwanzig Jahren vor meinen Augen ist: »Z. G. ist Joys Vater.«
    »Wer ist Z. G.?«
    Es ist die eine Stimme, die weder meine Schwester noch ich hören wollen. Ich drehe mich um, und da steht Joy in der Küchentür, ihre Augen wie schwarze Kiesel auf dem Grund einer Narzissenschale. Ihr Blick - kalt, ausdruckslos und unversöhnlich - verrät mir, dass sie viel zu lange zugehört hat. Ich bin erschüttert durch Sams Tod und die Version meiner Schwester von unserem Leben, doch ich empfinde absoluten Horror, dass meine Tochter etwas davon mitbekommen hat. Ich mache zwei Schritte auf Joy zu, aber sie weicht vor mir zurück.
    »Wer ist Z. G.?«, fragt sie erneut.
    »Dein richtiger Vater«, erwidert May mit sanfter Stimme, voller Liebe. »Und ich bin deine leibliche Mutter.«

    Wir drei stehen wie Statuen im Wohnzimmer. Ich sehe May und mich durch Joys Augen: eine Mutter - die ihrer Tochter beizubringen versucht hat, auf chinesische Weise höflich und auf amerikanische Weise ehrgeizig zu sein - in einem alten Nachthemd mit einem vor Tränen, Leid und Zorn geröteten Gesicht und eine andere Mutter - die ihre Tochter verwöhnte und sie mit dem Glamour und dem Geld von Haolaiwu bekannt machte -, die strahlend und elegant aussieht. Befreit von zwei Jahrzehnten des Lügens wirkt May friedlich, obwohl an diesem Abend so viel passiert ist. Meine Schwester und ich haben uns um Schuhe gestritten, darum, wer ein besseres Leben hat, wer klüger oder hübscher ist, aber jetzt habe ich keine Chance. Ich weiß, wer gewinnen wird. So lange habe ich mich gefragt, was mein Schicksal
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