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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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nehmen zwei Autos...«
    »Was ist mit Vern?« Selbst in diesem schrecklichen Moment des Verlusts kann ich meine Verantwortung nicht vergessen.

    »Du fährst zur Union Station und guckst, ob sie dort ist. Ich mache Vern fertig, dann fahre ich zum Busbahnhof.«
    Doch Joy ist an keinem der beiden Bahnhöfe. May und ich treffen uns wieder zu Hause. Wir wissen immer noch nicht genau, wohin Joy gefahren ist. Es ist schwer zu glauben, dass sie wirklich versucht, nach China zu gelangen, aber wir müssen davon ausgehen, wenn wir noch eine Chance haben wollen, sie aufzuhalten. May und ich überlegen uns einen neuen Plan. Ich fahre zum Flughafen, während sie zu Hause bleibt und herumtelefoniert: die Familie Yee anruft, um zu fragen, ob Joy den Mädchen gegenüber irgendwas erwähnt hat, die Onkel auf die Möglichkeit hin, dass sie sich bei ihnen Rat geholt hat, wie man aufs chinesische Festland gelangt, und Betsy und ihren Vater in Washington, um zu erfahren, ob es einen offiziellen Weg gibt, Joy festzuhalten, bevor sie das Land verlässt. Ich finde Joy nicht am Flughafen, dafür erhält May zwei bedrückende Informationen. Zum einen hat Hazel Yee gesagt, Joy habe früh am Morgen vom Flughafen aus angerufen und gesagt, sie verlasse das Land. Hazel glaubte Joy nicht und fragte gar nicht nach, wohin sie wolle. Außerdem erfährt May von Betsys Vater, dass Joy bei der Landung in Hongkong ein Visum beantragen und erhalten kann.
    Da wir noch nichts gegessen haben, öffnet May zwei Dosen Hühnersuppe mit Nudeln von Campbell und erhitzt sie auf dem Herd. Ich setze mich an den Tisch, sehe meiner Schwester zu und sorge mich um meine Tochter. Meine schöne, wilde Joy rennt Hals über Kopf an den einen Ort, wo sie nicht hingehen sollte: in die Volksrepublik China. Sie weiß nicht, was sie tut, auch wenn sie noch so überzeugt ist, genug über China zu wissen - aus Filmen, von diesem Joe, dieser dämlichen Gruppe, der sie beigetreten ist, und was auch immer ihr die Professoren in Chicago erzählt haben. Sie folgt der Natur des Tigers, handelt aus Wut, Verwirrung und fehlgeleiteter Begeisterung. Sie reagiert auf die Emotionen und das Durcheinander der letzten Nacht. Wie ich schon May gesagt habe, glaube ich, dass Joys Abreise nach China
ebenso sehr eine Flucht vor uns ist - den beiden Frauen, die seit ihrer Geburt um sie kämpfen -, wie es dabei um die Suche nach ihrem leiblichen Vater geht. Und Joy kann sich unmöglich vorstellen, wie schockierend - um nicht zu sagen gefährlich - es werden kann, Z. G. zu finden.
    Doch wenn Joy ihre wahre Natur nicht ablegen kann, so kann auch ich meiner nicht entkommen. Die Muttergefühle sind stark. Ich denke an meine eigene Mutter und was sie getan hat, um May und mich vor der Grünen Bande und den Japanern zu schützen. Mama mag sich mit ihrer Entscheidung, meinen Vater zurückzulassen, schwer getan haben, doch sie hat es gemacht. Sicherlich war sie starr vor Angst, als sie den Raum mit den Soldaten betrat, aber auch dort zögerte sie nicht. Meine Tochter braucht mich. Egal, wie gefährlich die Reise und wie groß das Risiko ist, ich muss sie finden. Sie muss wissen, dass ich ihr zur Seite stehe, bedingungslos, ohne zu fragen, in jedweder Lage.
    Ein schwaches Lächeln umspielt meine Lippen, als mir klar wird, dass es mir nun zum ersten Mal von Vorteil sein wird, keine amerikanische Staatsbürgerin zu sein. Ich habe keinen amerikanischen Reisepass. Ich habe nur meinen Reiseausweis, der mir erlauben wird, dieses Land zu verlassen, das mich nie haben wollte. Ich habe noch etwas Geld in meinem Hutfutter versteckt, aber das wird nicht für China reichen. Das Café zu verkaufen würde zu lange dauern. Ich könnte zum FBI gehen und alles gestehen, mir sogar noch mehr ausdenken, könnte behaupten, ich sei ein fanatischer Kommunist der schlimmsten Sorte, und darauf hoffen, ausgewiesen zu werden …
    May gießt die Suppe in Schalen, und wir gehen in Verns Zimmer. Er ist blass und verwirrt. Er beachtet die Suppe nicht, sondern dreht nervös die Bettdecke in den Händen.
    »Wo ist Sam? Wo ist Joy?«
    »Es tut mir leid, Vern. Sam ist gestorben«, sagt May ihm nun wohl schon zum zwanzigsten Mal. »Joy ist davongelaufen. Verstehst du, Vern? Sie ist nicht hier. Sie will nach China.«

    »China ist schlecht.«
    »Ich weiß«, sagt May. »Ich weiß.«
    »Ich will Sam. Ich will Joy.«
    »Iss lieber deine Suppe«, sagt May.
    »Ich muss Joy hinterherfahren«, verkünde ich. »Vielleicht kann ich sie in Hongkong finden,
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