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Todesträume am Montparnasse

Titel: Todesträume am Montparnasse
Autoren: Alexandra Grote
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Papa soll es ausprobieren, dann wird man sehen.
    Im letzten Brief schrieb Mama, sie habe im Moment in ihrer Kanzlei nicht viel zu tun. Ich hoffe, dass sich das bald ändert! Die Anwaltsgebühren bei Euch sind ohnehin niedrig genug. Und Du, Papa, arbeite nicht zu viel. Ich habe Dir schon früher gesagt, dass Du einen Kollegen einstellen sollst, der wenigstens die Hausbesuche absolviert. Sonst übernimmst Du Dich, und Dein Rheuma bessert sich nie.
    Seit einigen Wochen arbeite ich in meiner Freizeit an den großen Beethoven-Sonaten. Neulich hat mein Nachbar sich beschwert. Ich hatte bis kurz vor zweiundzwanzig Uhr gespielt. Zunächst hämmerte er gegen die Wand. Dann klingelte er und forderte mich auf, mir eine andere Wohnung zu suchen und ihn nicht länger mit meiner Musik zu belästigen. Er hat tatsächlich das Wort »belästigen« benutzt, so ein Banause! Aber die Concierge hat mir gesagt, dass er im Frühjahr ausziehen will, sodass sich das Problem von allein erledigen wird. Bisher ist er gottlob! der Einzige, der mein Spiel als Belästigung empfindet.

    Die Arbeit nimmt mich stark in Anspruch. Doch ich will mich nicht beklagen, denn ich liebe meine Aufgabe. Die Bezahlung ist gut, und ich habe eine feste, krisensichere Anstellung. Bin sozusagen Beamtin, Angestellte des Staates. Das ist viel wert in diesem Land, das eine hohe Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hat und in dem selbst qualifizierte Akademiker auf der Straße landen und keine Arbeit mehr finden.
    Nun komme ich zum Schluss. Ich sehne mich nach Mamas Lammeintopf! Wenn ich daran denke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Oft habe ich schon versucht, Mutters Rezept nachzukochen, jedes Mal war es ein Fiasko. Ihr wisst ja, was für eine schlechte Köchin ich bin. Und ich werde es auch nie richtig lernen. So bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis ich Euch alle wieder in meine Arme schließen kann und wir gemeinsam um unseren großen Esstisch sitzen.
    Ich liebe Euch und habe oft Heimweh,
    Eure treue Tochter E.
     
    P. S. Vor drei Tagen bekam ich Post von Alex.
    Ich will ihm, sobald ich kann, antworten.

2. KAPITEL
    LaBréa kannte La Santé aus der Zeit, bevor er nach Marseille versetzt worden war. Seitdem hatte er das Gefängnis nicht mehr betreten. Im Jahr 2000 geriet es in die Schlagzeilen, als die Gefängnisärztin Véronique Vasseur ein aufsehenerregendes Buch veröffentlichte. Darin prangerte sie die skandalösen Haftbedingungen an, was zur Folge hatte, dass eine Untersuchungskommission die Zustände in französischen Haftanstalten überprüfte. Seitdem hatte sich einiges im Strafvollzug geändert.
    Im Büro der diensthabenden Beamten schien sich allerdings nicht viel verändert zu haben. Das Mobiliar in diesem graugrün getünchten Raum mit nackten Wänden stammte aus einer Zeit, die weit zurücklag, und bestand nur aus dem Nötigsten: zwei einfache Schreibtische aus Metall, ein Spind und der unverzichtbare Tresen, der den Arbeitsplatz der Beamten vom Besucherbereich abtrennte. Dort hatte LaBréas Mitarbeiter Franck Zechira lässig seine Ellbogen aufgestützt. Als LaBréa den Raum betrat, drehte er sich um. Zum wiederholten Mal in den letzten Wochen stellte LaBréa erstaunt fest, wie sehr Franck sich verändert hatte. Ohne seine Moustache wirkte sein Gesicht
zwar jünger, aber auch ein wenig nackt. Daran änderte auch der Dreitagebart nichts, den er sich mehr aus Nachlässigkeit denn aus einer modischen Laune heraus hatte wachsen lassen. Francks Kleidung wirkte ungepflegt. Seine verwaschene Jeans saß schlecht und wies an den Knien dunkle Stellen auf. Unter dem Lammfellblouson trug er einen Rollkragenpullover, dessen Maschen sich an der Kragennaht aufgelöst hatten. Seine braunen Augen lagen tief in den Höhlen. Es sah aus, als hätte Franck die letzten Nächte durchgemacht.
    In diesem Zustand befand sich der Hauptmann schon seit einigen Wochen. Des Rätsels Lösung: Seine Freundin hatte ihn einen Tag vor Heiligabend Hals über Kopf verlassen. Zwischen Weihnachten und Neujahr war der Möbelwagen gekommen. Seitdem lebte sie mit einem anderen Mann zusammen, mit dem sie offenbar bereits seit letzten Herbst ein Verhältnis hatte, ohne dass Franck etwas geahnt hätte.
    LaBréa kannte die Hintergründe nicht genauer. Franck hatte sich wohl gleich nach der Trennung bei seiner Kollegin Claudine Millot ausgesprochen, doch die ging äußerst diskret mit ihrem Wissen um. Und so war in LaBréas Abteilung lediglich bekannt, dass Francks Freundin auf und
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