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Todesträume am Montparnasse

Titel: Todesträume am Montparnasse
Autoren: Alexandra Grote
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Franck einen vielsagenden Blick zu. Dieser verstand den Wink seines Chefs, zog verlegen die Nase hoch und wandte sich abrupt dem Leichnam zu, den Brigitte Foucart weiter in Augenschein nahm.
    Julien Lancerau hatte mit seinen sechsundzwanzig Jahren bereits zwei Frauen brutal vergewaltigt. Beim ersten Mal war er mit einer milden Strafe davongekommen. Eine zweite Verurteilung wäre wesentlich härter ausgefallen. War Julien Lancerau jemand, der sich durch Freitod einer Verurteilung entzogen hatte? LaBréa wusste es nicht. Aufmerksam betrachtete er den Toten. Sein zum Kinn hin spitz zulaufendes Luchsgesicht mit den schrägen hellgrünen Augen, die weit geöffnet waren, hatte sich durch den Tod kaum verändert. Die aschblonden Haare waren sorgsam gekämmt und linksseitig gescheitelt. Die sichelförmige feine Narbe über der linken Augenbraue schien nach seinem Ableben ein wenig dunkler, als LaBréa es in Erinnerung hatte. Das Hemd war aufgeknöpft und gab eine glatte, unbehaarte Brust frei. Im Schrittbereich der Drillichhose entdeckte LaBréa einen großen Fleck. Offenbar hatte der Mann bei Eintritt des Todes noch Wasser gelassen.
    Jetzt erhob sich Brigitte Foucart.
    »Und?«, fragte LaBréa.
    »Auf den ersten Blick sieht alles wie Selbstmord aus.« Die Gerichtsmedizinerin streifte die Gummihandschuhe ab und steckte sie in die Tasche ihres
Schutzkittels. Sie maß den Staatsanwalt mit einem flüchtigen Blick und wandte sich dann LaBréa zu. »Augenscheinlich ein Fall von typischem Erhängen. Der Aufhängepunkt befindet sich hinten in der Mitte des Nackens, und der Körper hängt freischwebend. Hier.« Sie deutete auf ein Stück Stoff am Fußende des Bettes. »Er hat das Bettlaken in Streifen gerissen und diese zusammengerollt, damit der so entstehende Strick fester wird.« Sie zeigte auf den umgekippten Schemel, der im Raum lag, und zum Fenster. Der Strang war in mehr als zwei Meter Höhe unter der Decke angebracht. »Er stieg auf den Schemel, befestigte das Strangwerkzeug am Fensterkreuz, nachdem er sich die Schlinge vermutlich zuvor um den Hals gelegt hatte, und stieß den Schemel beiseite. Der Tod trat ein, weil die Blutzufuhr zum Gehirn unterbunden wurde. Das Zungenbein wurde nach hinten und gegen die hintere Rachenwand geschoben. Ich sehe mir alles genauer an, wenn er bei mir auf dem Tisch liegt.«
    LaBréa bückte sich und gab Brigitte Foucart einen Wink. »Ich möchte dir gern etwas zeigen, Brigitte, damit du bei der Autopsie nicht überrascht bist.«
    Er knöpfte die Hose des Toten auf und öffnete den Reißverschluss. Vorsichtig schob er die Unterhose ein Stück nach unten. Brigitte trat näher heran.
    »Du liebe Güte, was ist das denn?«, entfuhr es ihr, als sie das mit glänzender lila Farbe besprühte Geschlechtsteil des Erhängten sah.

    »Der Racheakt einer militanten Frauengruppe. Der Mann ist ein überführter Vergewaltiger.«
    Brigitte runzelte ungläubig die Stirn, dann erlaubte sie sich ein kurzes Grinsen, das jedoch sogleich wieder verschwand.
    »Was es nicht alles gibt«, bemerkte sie trocken »Na ja, dann muss ich mich ja wenigstens nicht fragen, warum manche Menschen plötzlich lila Totenflecken bekommen.« Mit einer energischen Geste strich sie über ihre kurz geschnittenen, kräftigen Haare. »Was den Todeszeitpunkt angeht, so gibt es diesmal wenig Raum zu Spekulationen. Da der Mann heute Morgen um sieben noch lebend gesehen wurde und kurz nach neun tot am Fensterkreuz hing, liegt der Todeszeitpunkt logischerweise irgendwo dazwischen. Den Bericht bekommst du heute Nachmittag, Maurice.« Dann wandte sie sich an den Gefängnisdirektor. »Den Leichnam nehmen wir gleich mit. Meine Leute warten unten im Hof. Wollen Sie bei der Autopsie dabei sein, Monsieur Duval?« Der hatte die ganze Zeit wie hypnotisiert auf die besprühten Genitalien des Toten gestarrt.
    »Wie bitte?«, meinte er irritiert. Sein arroganter Gesichtsausdruck war gewichen. Er räusperte sich. »Ja … ja, natürlich. Obwohl - eigentlich ist der Fall ja sonnenklar, oder, Doktor?«
    Die Gerichtsmedizinerin lächelte herablassend. »Sonnenklar ist er erst, wenn mein Bericht vorliegt, Monsieur.«

    Ein kurzes Nicken in die Runde, dann verließ Brigitte Foucart die Zelle. Staatsanwalt Duval folgte ihr.
     
    Wenig später saßen sie im Büro des Gefängnisdirektors. Dr. Hélène Clément, die Ärztin, hatte die Beine übereinandergeschlagen, sie waren lang und wohlgeformt. Ihre schlanken Hände ruhten lässig auf ihren Oberschenkeln. Sie
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