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Astrella 02 - Brudernacht

Astrella 02 - Brudernacht

Titel: Astrella 02 - Brudernacht
Autoren: Gmeiner-Verlag
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    Das Baby schreit, schreit, schreit. Schrille Schreie, ohne Unterbrechung. Es scheint keine Pause zu benötigen, um Luft zu holen. Die Schreie sind ein einziger, durch Mark und Bein dringender Ton.
    »Haben wir hier schon jemals so ein Kind gehabt?«, fragt Schwester Heidrun.
    »Nein«, erwidert Schwester Kordula und schüttelt ihren Kopf mit den silbergrauen Haaren. »Bei Gott, nein!«
    »Ich weiß mir bald nicht mehr zu helfen«, gesteht Schwester Heidrun und wirft einen Blick zum Fenster hinaus, wo die Linde steht, deren Blätter sanft im Wind schaukeln. Das Kind schreit weiter.
    »Vielleicht ist es eine Prüfung?«, deutet Schwester Kordula zaghaft an. Jedoch ist ihr anzusehen, dass sie selbst an dieser Möglichkeit zweifelt. Eine Prüfung wofür?, denkt sie, behält es aber für sich.
    »Ja, vielleicht ist es so«, murmelt Schwester Heidrun und denkt dabei an die Mutter des Kindes.
    Das Baby gibt keine Ruhe. Das süße Köpfchen ist von der Anstrengung des Schreiens angeschwollen. Ein Schweißfilm bedeckt sein Gesicht. Die Äuglein sind nur einen klitzekleinen Spalt geöffnet.
    »Wenn es nur nicht so laut wäre«, klagt Schwester Kordula. Trotz ihrer klaren und festen Stimme hört es sich verglichen mit dem Schreien wie ein Flüstern an. Das Kind hat sie völlig in seinen Bann gezogen. Sie alle hier im Heim.
    »Hast du es schon gewickelt?«
    »Wir müssen uns wieder um die anderen kümmern.«
    Sie sagt es, dreht sich um und verlässt das Zimmer. Auch Schwester Heidrun wirft einen letzten Blick auf das Baby und geht dann ebenfalls hinaus. Das Baby schreit weiter. Die Tür dämpft dieses Schreien. Ein wenig.
     
    Josef Klimnich blieb auf dem Gehweg in der Schubertstraße stehen und überlegte, ob er im Hirschgraben noch ein Weilchen den Boulespielern zusehen sollte, bevor er dann über die Weinbergstraße und die Friedrich-Schiller-Straße nach Hause ging. Viel länger als eine Dreiviertelstunde sollte er nicht unterwegs sein, sonst machte Berta sich Sorgen. Besonders seit er vor ein paar Monaten in der Jahnstraße von ein paar Jugendlichen belästigt worden war. Bestimmt würden wieder viele Menschen unterwegs sein. Vor allem junge Leute nutzten diesen malerischen Platz inmitten der alten Reichsstadt Ravensburg, um dort bei einem Bier oder einer Cola über Gott und die Welt zu diskutieren oder einfach den herrlichen Sommerabend zu genießen. Manche wiederum schauten ebenfalls den Boulespielern zu. Selbstverständlich würde er das fröhliche Treiben nur von oben, von der Straße aus beobachten. Sich unter die Leute in dem tiefen Graben mit dem doppelten Mauerring zu begeben, getraute er sich nicht. Zumal es leider auch ein paar unangenehme Zeitgenossen gab, die ihre Hunde mithatten und die Vierbeiner frei umherlaufen ließen.
    Klimnich spazierte gern diesen Weg entlang, auch wenn er dafür den Umweg über die Schubertstraße in Kauf nehmen musste. Berta hatte ihm nach dem Vorfall mit ernster Stimme verboten, jemals wieder allein durch die Jahnstraße zu gehen. Dabei hatte sie ihm einen Blick aus ihren wunderschönen grünblauen Augen geschenkt, in dem er nur zu deutlich ihre Angst erkannte, ihm könnte etwas zustoßen. Andererseits bestand sie darauf, dass er diese Spaziergänge unternahm. Als Arzt war das anders gewesen. Da war er abends nur noch froh gewesen, dem alltäglichen Trubel entkommen zu sein. Hätte ihm Berta nicht den Pudel zu seinem 65. Geburtstag geschenkt, würde er sich jetzt wahrscheinlich in seinem Häuschen vergraben.
    Fips, wie üblich etwa zwanzig Schritte voraus, beschnupperte soeben einen kleinen Mauervorsprung an einer der zahlreichen Laderampen. Das Gewerbegebiet Schubertstraße lag parallel zu den Bahngleisen der Strecke von Friedrichshafen nach Ulm. Der Pudel kümmerte sich nur insofern um Klimnichs Entscheidungsschwierigkeiten, als er kurz nach hinten blickte, um sich dann weiter seinem Revier zu widmen. Er ließ sich dabei auch von einem vorbeifahrenden Auto nicht stören, dessen Lichtkegel ihn für Sekundenbruchteile der Nacht entriss.
    Klimnich erinnerte sich bei diesem Anblick daran, wie er Berta eines unvernünftigen, kindlichen Gemütes bezichtigt hatte, als sie ihm das kleine schwarze Knäuel überreichte. Auf seine Frage, wer denn künftig mit dem Pudel Gassi gehen würde, hatte sie mit einem verschmitzten Lächeln geantwortet: »Du!« Trotz seiner heftigen Proteste hatte er sich nach kurzer Zeit an den neuen Begleiter gewöhnt. Zumal der sich rasch als ein überaus
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