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TODESSAAT

TODESSAAT

Titel: TODESSAAT
Autoren: Brian Lumley
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den Gedanken beiseite, dass er sie beschmutze. Nein, so weit war er noch nicht. Er war ein Freund. Ihr einziger Freund. Er war der Necroscope.
    Wie auch immer – als er eine Hand auf ihre klamme Stirn legte, zuckte sie vor ihm zurück wie vor einer Giftschlange! Nicht physisch natürlich, denn sie war ja tot, aber ihr Geist, ihr Verstand wand sich, schrumpfte und zog sich in sich selbst zurück wie eine exotische Seeanemone, die von einem Schwimmer gestreift wird. Harry gefror das Blut in den Adern, und einen Augenblick lang erschrak er vor sich selbst. Das Letzte, was er beabsichtigt hatte, war, sie noch mehr zu ängstigen.
    Er hüllte sie in beruhigende Gedanken und all die Wärme, die er im Gespräch mit den Toten aufzubringen vermochte: Schon gut! Hab keine Angst! Ich will dir nichts tun! Niemand wird dir je wieder etwas antun! So leicht war das. Ohne sich weiter darum zu bemühen, hatte er ihr mitgeteilt, dass sie tot war.
    Doch im nächsten Moment wurde ihm klar gemacht, dass sie das bereits wusste. BLEIB WEG VON MIR! Ihre Totenstimme klang wie ein gequälter Aufschrei in seinem Gehirn nach. WEG ... DU SCHMUTZIGES ... DING!
    Als habe ihn jemand mit blank liegenden elektrischen Kontakten berührt, zuckte Harry zurück. Schauer überliefen ihn, als er gemeinsam mit der Toten die letzten Augenblicke ihres Lebens erlebte. Ihre letzten Atemzüge, aber nicht das Letzte, was sie erlebt hatte – denn es gibt zum Glück nur wenige Fälle, in denen auf Geheiß gewisser Menschen, die man eher als Ungeheuer bezeichnen sollte, selbst totes Fleisch zu neuen Gefühlen erweckt werden kann.
    In einem halb bewussten Albtraum flackerten kaleidoskopartig geisterhafte Bilder vor dem inneren Auge des Necroscopen auf und verblassten wieder. Doch Nachbilder blieben bestehen, und Harry wusste, dass sie ihn so schnell nicht verlassen würden, dass er sie lange Zeit nicht vergessen würde. Das war ihm ebenso klar wie die Natur dessen, womit er es hier zu tun hatte, denn damit war er aus einem früheren Fall durchaus vertraut.
    Damals hatte es den Namen ... Dragosani geführt!
    Der Mörder dieses armen Mädchens war wie Dragosani ein Nekromant gewesen, nur in einer Hinsicht noch schlimmer. Denn nicht einmal Dragosani hatte die Leichen seiner Opfer vergewaltigt!
    »Jetzt ist das alles vorüber«, sagte er zu ihr. »Er kann nicht zurückkommen. Du bist jetzt in Sicherheit.«
    Er spürte, wie ihre Gedanken langsam zur Ruhe kamen und ihre Neugier durchbrach. Sie wollte mehr erfahren, aber im Augenblick war sie noch völlig verängstigt. Sie wollte über ihren Zustand Bescheid wissen, doch das war wohl das Beängstigendste überhaupt. Auf ihre Art war sie sehr tapfer, und sie wollte es genau wissen.
    Bin ich ... (ihre tote Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so entsetzt und bebte nur noch ein wenig) ... bin ich wirklich ...?
    »Ja, das bist du!«, bestätigte Harry. Er wusste, dass sie sogar diese Bewegung spüren würde, wie die Toten immer seine Handlungen, seine Stimmungen spürten. »Aber ... ich meine ... es könnte schlimmer sein!«
    Er hatte das schon so oft erlebt, und es fiel ihm trotzdem nicht leicht. Wie kann man einen jüngst Verstorbenen davon überzeugen, dass es noch schlimmer sein könnte? Dein Körper wird verwesen und von den Würmern gefressen werden, aber dein Geist lebt weiter. Oh, du wirst nichts mehr sehen können ... es bleibt für immer dunkel um dich, und du kannst auch nichts mehr riechen oder schmecken oder berühren, aber dennoch hätte es schlimmer kommen können. Deine Eltern und die anderen, die dich liebten, werden an deinem Grab weinen und dort Blumen pflanzen und sich vorstellen, wie du einmal ausgesehen hast, aber du wirst nicht wissen, dass sie da sind, du kannst nicht mit ihnen sprechen und sie beruhigen. Du kannst ihnen nicht sagen, dass es noch schlimmer sein könnte.
    Das waren Harrys Eindrücke, und obwohl sie sich in seinem Innersten abspielten, drangen seine Gedanken zu ihr durch. Sie hörte und fühlte sie und spürte nun, dass er ein Freund war.
    Du bist der Necroscope, stellte sie fest. Sie wollten mir von dir erzählen, aber ich hatte Angst und hörte nicht richtig hin. Ich wandte mich ab, als sie mit mir sprachen. Ich wollte nicht ... mit toten Leuten sprechen.
    Harry weinte. Große Tränen ließen die Szene vor seinen Augen verschwimmen, rannen ihm über die blassen, hohlen Wangen und fielen heiß auf seine Hand, die noch immer auf ihrer kalten Stirn lag. Er hatte nicht weinen wollen, hatte
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