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Todesreigen

Titel: Todesreigen
Autoren: Jeffery Deaver
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verschwinden. Sie wissen schon, was ich meine. Ich hab schon öfter darüber nachgedacht. Sie auch, aber sie sagt es nicht. Wo sie doch seine Mutter ist und alles. Einmal nachts hab ich es fast getan. Als er schlief.« Er hielt einen Moment inne und streichelte einen Riss im Verputz, der anscheinend von einer Faust stammte. »Ich war nicht stark genug. Ich wünschte, ich wäre es gewesen. Aber ich konnte es nicht tun.«
    Als seine Frau zu ihnen trat, verstummte er. Der Vater klopfte zögerlich an die Tür und zuckte die Schultern, als niemand antwortete. »Wir können nicht viel machen. Er schließt immer ab und gibt uns keinen Schlüssel.«
    »Oh, verdammt noch mal.« Ron machte einen Schritt zurück und trat mit voller Wucht gegen die Tür.
    »Nein!«, schrie die Mutter. »Er wird wütend sein. Tun Sie…«
    Als die Tür krachend aufsprang, trat Ron ins Zimmer und schaltete das Licht ein. Verblüfft blieb er stehen.
    Im Gegensatz zum Rest des Hauses war Harles Zimmer tadellos aufgeräumt.
    Das Bett war gemacht, und die Decken waren so glatt wie bei einem Gefreiten. Der Schreibtisch war aufgeräumt und poliert, der Teppich gesaugt, die Regale ordentlich eingeräumt, und sämtliche Bücher waren in alphabetischer Reihenfolge sortiert.
    »Das macht er selbst«, sagte Harles Mutter mit einer Spur von Stolz. »Er räumt auf. Sehen Sie, er ist gar nicht so schlimm…«
    »Gar nicht so schlimm? Sind Sie übergeschnappt? Sehen Sie sich das an! Schauen Sie einfach hin!«
    An den Wänden hingen Poster von Filmen über den Zweiten Weltkrieg, Nazisymbole, Hakenkreuze, Knochen. An einer Wand baumelte ein Bajonett. Auf einem kleinen Schrank lag ein Samuraischwert. Auf einem Poster war eine Szene aus einem Comic abgebildet, mit einem Mann, der Messer als Füße hatte und im Kampf einen Gegner aufschlitzte. Blut spritzte durch die Luft.
    Drei Paare blitzsauberer Springerstiefel standen neben dem Bett. Ein Film,
Gesichter des Todes
, lag auf dem Videorecorder, der mit einem Fernseher verbunden war.
    Ron streckte die Hand zur Schranktür aus.
    »Nein«, sagte die Mutter entschieden. »Da nicht! Da lässt er uns nicht ran. Das dürfen wir niemals tun!«
    Die Doppeltür war ebenfalls verschlossen. Mit einem Ruck riss Ron die Türblätter auf, wobei sie sich beinahe aus den Angeln lösten. Schaurige Spielzeuge, Monster und Vampire, Figuren aus Horrorfilmen fielen heraus. Gummiimitationen abgetrennter Glieder, ausgestopfte Tiere, das Skelett einer Schlange, Freddy-Krueger-Poster.
    Und genau in der Mitte des Schrankbodens befand sich die Hauptattraktion: ein Altar zu Ehren von Gwen Ashberry.
    Ron schrie entsetzt auf, fiel auf die Knie und starrte auf das Furcht erregende Tableau. Mehrere Fotos von Gwen waren an der Wand befestigt. Harle musste sie an den Tagen aufgenommen haben, an denen Gwen allein von der Schule nach Hause ging. Auf zweien der Schnappschüsse schlenderte sie selbstvergessen über den Bürgersteig. Auf dem dritten drehte sie sich um und lächelte vor sich hin. Und auf dem vierten – dem, der ihn wie ein Faustschlag traf – beugte sie sich herunter, um ihren Schuh zu binden, wobei ihr kurzer Rock an ihren hübschen Beinen hochrutschte. Es war das Foto in der Mitte des Altars.
    Sie liebt mich, ich lieb sie sie liebt mich ich lieb sie liebt ich lieb sie liebt sie liebt sie liebt sieliebtsieliebtsieliiieebt…
    Ein Gegenstand auf dem Boden, zwischen zwei Kerzen, sah wie eine weiße Blume aus, die aus einem Ramschladen-Kaffeebecher mit dem aufgedruckten Namen Gwen herauswuchs. Ron berührte die Blume. Sie war aus Stoff… aber woraus genau? Als er den Slip des Mädchens aus dem Becher herauszog, konnte er nur noch ein tiefes Stöhnen ausstoßen und das zierliche Kleidungsstück an seine Brust drücken. Eine Bemerkung, die Doris vor einigen Monaten gemacht hatte, kam ihm in den Sinn: dass die äußere Tür des Wäschekellers offen gestanden hatte. Er war also im Haus gewesen!
    In seiner Wut riss Ron das Foto der gebückten Gwen herunter, dann die anderen, und er zerriss sie mit seinen kräftigen Fingern.
    »Bitte, tun Sie das nicht! Nein, nein!«, rief die Mutter weinend.
    »Also wirklich, Mister!«
    »Harle wird wütend sein. Ich kann es nicht ertragen, wenn er wütend auf uns ist.«
    Ron erhob sich und warf die Tasse gegen eine Naziflagge, wo sie zerschellte. Er schob sich an dem sich duckenden Paar vorbei, riss die Haustür auf und trat mit eiligen Schritten hinaus auf die Straße.
    »Wo bist du?«, schrie er. »Wo? Du
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