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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel
Autoren: Verena Wyss
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meint sie uns. Sie lächelt mich hin und wieder an, lacht mit Noël, krault Moshe. Wir plaudern, wir trinken Tee, essen Törtchen mit Rahm, sie ist faszinierend. Irgendetwas im Klang ihrer Stimme macht mich sehr aufmerksam, sie wirkt so beherrscht. Auf jeden Fall hat sie meinen ›Jeep‹ draußen unter dem noch kahlen Kastanienbaum stehen sehen, hat gewusst, dass Besuch da ist, ist speziell hereingekommen.
    Sie interessiert sich ehrlich für uns, für meinen Beruf, für die Art, wie wir wohnen. Sie geht ausführlich auf ihren Beruf als Biozeichnerin ein, Noël schaut sie an, als sähe er ein Wunder, hört gebannt zu, wie ich ihn noch selten gesehen habe. Sie redet zu mir und zu ihm, Alja muss dies alles ja kennen, von ihren Organismen, die sie nach dem Mikroskop malt, weil das viel optischer herauszubringen ist als bei einer Lithografie oder als bei einer noch so guten Fotografie, dass auch Computertechnik es so umfassend noch nicht hinkriegt. Noël strahlt mit ihr. Sie arbeitet seit einiger Zeit auch rein künstlerisch. Sie hat für eine Wohltätigkeitsaktion damit angefangen. Ich bin überrascht, sie ist die Designerin der noblen Seidenschals, die sogar ich kenne, jene mit den Insekten oder Lurchen oder Pilzen oder Schmetterlingen oder Käfern; bürgerliche Politikerinnen drapieren sich damit bei ihren Fernsehauftritten.
    Jetzt, da ihr Gesicht so entspannt ist, ist sie sehr schön, ein Oval mit hoher Stirn, schräg gestellte, helle Augen, schmale Nase, herzförmige Oberlippe.
    Die elegante Meret Platen holt in der Garderobe ihr Ostergeschenk, zwei kleine Bilder in breitem Altgold-Rahmen. Sie hat sie extra für Alja gemalt, weil sie Alja nun schon seit Jahren so sympathisch findet, weil sie doch ab und zu miteinander reden, weil sie glücklich ist, eine so nette Nachbarin zu haben – es tönt plausibel.
    Auf dem einen auf hellgrünem Grund eine quadratische Anordnung von Maulbeeren, sechzehn Maulbeeren, eine exakt neben der anderen, schwarze Beeren mit unterschiedlichen roten Färbungen. »Dass du mir die Maulbeeren gemalt hast!«, Alja ist berührt von diesem Bild. In unserer Gegend sind Maulbeerbäume selten. Der Baum im oberen Garten hat diese schwarzen Beeren, die essbaren. Die Seidenraupenbäume sind gerade die anderen, jene mit den weißlichen Beeren. Aljas Baum müsste mindestens fünfhundert Jahre alt sein, ohne zu übertreiben. Damals wurden sie in Europa richtig eingeführt, bis sich herausstellte, dass man die falschen gekriegt hatte, nicht jene für die Raupen. Und jetzt hat Meret Platen ihr die Beeren gemalt, nennt es lächelnd ein Nebenprodukt ihrer Fronarbeit. Diesmal ist es ihr nicht darum gegangen, irgendwelche Mutationen aufzureihen. Das hier ist ein Bild um des Bildes willen.
    Beim zweiten Bild ruft Alja überrascht und entzückt aus: »Du hast mir den ›Petit-Duc‹ gemalt, ganz wie er leibt und lebt!« Eine weiße Eule auf himbeerziegelrotem Grund. Mit weit ausgebreiteten Schwingen segelt sie genau auf dich zu, etwas über dir. Die dunklen runden Eulenaugen starren dich direkt an, funkeln, ähneln fast ein bisschen Meret Platens eigenen Augen. Die Maltechnik ist hier noch ausgefeilter als auf dem Maulbeerenbild, mit einer Lupe ließen sich die Federstrichlein unterscheiden, die Brust ist mit winzigen Goldtüpfelchen übersät.
    »Ist er wieder hier?« – Ich weiß sofort, Meret Platen fragt nach dem ›Petit- Duc‹, jener Eule, die Alja vor Jahren als Jungvogel gerettet und durchgefüttert hat. »Nein, ich weiß nicht, ab und zu höre ich nachts drüben im Wald eine Eule rufen, doch gesehen habe ich ihn in diesem Frühjahr noch nicht. Der ›Petit-Duc‹ kommt bis nah ans Haus, sitzt oft im Nussbaum. Er wird ganz sicher wieder kommen, Eulen sind Streifvögel.«
    Noël kennt die Geschichte, die halbe Geschichte. ›Le Grand-Duc‹, das ist eigentlich der Uhu. Alja hatte den ›Petit-Duc‹ gefunden, eine junge weiße Eule, auf der oberen Lichtung, angekettet auf einem Pfahl, von Jägern – das nennt sich Krähenjagd. Krähen fielen ihn an, auf und nieder, sie hätten ihn zerhackt, wäre Alja nicht dazugerannt; Alja war damals natürlich jünger, konnte schnell rennen. Der Vogel blutete, war schwer verletzt, sein linker Flügel hing gebrochen herunter. Alja hat mit den Männern gestritten, dann hat sie ihn in ihren Pullover gewickelt mit nach Hause genommen, hat seinen Flügel mit Karton geschient und hat ihn wieder aufgepäppelt. Noël staunt mit großen Augen: Alja hat für ihn auf dem
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