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Tod Auf Dem Jakobsweg

Tod Auf Dem Jakobsweg

Titel: Tod Auf Dem Jakobsweg
Autoren: Petra Oelker
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Wanderer, die sich der Stille der Berge ergeben wollten, in die Flucht schlug. Etwa hundert Meter hinter ihr bogen drei weitere Gestalten um die letzte, von einer Hecke halb verborgenen Kurve, sie trugen schon ihre Regenjacken, unter den Kapuzen waren die Gesichter nicht zu erkennen. Einer musste Jakob sein. Als Reiseleiter gehe er grundsätzlich mit den Nachzüglern, hatte er gestern versichert, jemand müsse Sorge haben, allein zurückzubleiben. Benedikt und Nina, Felix und die rosenfarbene Edith mussten demnach schon vor ihnen auf dem Weg zur Passhöhe sein.
    Leo hatte gedacht, sie werde stets das Schlusslicht bilden, dass sie immerhin zum Mittelfeld gehörte, bereitete ihr Genugtuung. Alle hatten Hunger, doch sie begnügten sich mit ein paar Keksen oder einer Banane. Für das Picknick, erklärte Jakob, der inzwischen mit Helene und Sven das kleine Plateau erreicht hatte, gebe es später einen geschützten Platz mit einer Wasserstelle bei einem Edelkastanien-Wäldchen. Das sei der nächste Treffpunkt und nicht zu verfehlen.
    Leo streifte ihr Regencape über den Anorak, ließ trotzig die Handschuhe im Rucksack — schließlich war es Mai! — und machte sich wieder auf den Weg.
    «Nur immer den gelben Pfeilen und Muschelzeichen folgen», rief Jakob ihr nach, «dann kannst du nicht falsch gehen. Und später beim großen Kreuz rechts ab durch die Wiese. Achte nur immer auf die Pfeile...»
    Der Jakobsweg maß von St.-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela gut siebenhundertfünfzig Kilometer, trotzdem, so hieß es, könne man ihn gänzlich ohne Karten und Kompass finden. An jeder Kreuzung, an jedem abzweigenden Trampelpfad weise ein gelber Pfeil oder das Muschelzeichen, oft beides, die Richtung. Leo beschloss, dieser Auskunft zu trauen.
    Der Weg, jetzt eine schmale asphaltierte Straße verlief nur scheinbar eben. Tatsächlich ging es beständig bergauf. Wann es wieder eindeutig steiler wurde, erinnerte sie später nicht, da hatte sie längst aufgehört, auf die Uhr zu sehen. Ihre Füße sehnten sich nach weicherer Erde und liefen von allein, Schritt vor Schritt vor Schritt, ihre Hände blieben in den Ärmeln warm, nur ab und zu wischte sie sich die Nässe vom Gesicht. Von beglückender Freiheit der Gedanken konnte keine Rede sein. Sosehr sie sich bemühte, an blühende Wiesen und warme Sommertage zu denken — der immer eisiger werdende Regen, der Wind und die stetige Steigung fesselten ihre Gedanken und jagten sie im Kreis um die Unbilden dieser unfreundlichen Natur und den schwachsinnigen Entschluss zu dieser Reise.
    Dafür bereitete ihr das gefürchtete Gruppenleben nun keinerlei Probleme. Es gab keines. Ihre Wanderung war einsam, außer den weit auseinandergehenden dreizehn Deutschen war kaum jemand unterwegs. Kurz bevor der Weg den mit dichtem Gebüsch und alten Bäumen bewachsenen, zur Rechten aufragenden Hang hinter sich ließ, überholte sie zwei junge Männer, die unter einem mächtigen Nussbaum wasserdichte Kunststoffhosen über ihre durchnässten Shorts zogen, Sie waren ekelhaft gut gelaunt, Leo hatte sie schon seit einiger Zeit durch den Dunst gehört. Sie sprachen spanisch, und als sie an ihnen vorbeiging, die Kapuze weit über den Kopf gezogen, riefen sie ihr ein spottlustiges «Buen camino!» nach, den traditionellen Pilgerruf für den guten Weg.
    Am Ende des Hanges empfing Leo eine kahle Kuppe, scharfer Wind peitschte ihr bitterkalten Regen ins Gesicht. Die Straße wand sich in weitem Bogen weiter aufwärts. Aufwärts. Immer aufwärts. Der vermaledeite Pass — tausendvierhundertdreißig Meter über dem Meeresspiegel — konnte nicht mehr weit sein. Hinter jeder der langgezogenen Kurven vermutete sie den höchsten Punkt, von dem es endlich nur noch bergab ging, immer weiter auf das Ziel zu, dem Kloster Roncesvalles.
    Der Weg hatte viele lange Kurven.
    Sie schwitzte unter ihrer Regenkleidung, doch sobald sie stehen blieb, kroch die Kälte durch ihren Körper, versteiften sich ihre Muskeln, und sie stapfte weiter. Bevor sie die Kuppe erreichte, hatte sie noch ab und zu Stimmen gehört, von Wanderern, die vor ihr oder hinter ihr gingen, schwatzten und manchmal sogar lachten. Nun war es ganz still. Sie hörte nicht einmal das Klacken von Heddas Stöcken. Einmal überholte sie jemand, mit kraftvollen Schritten gegen den Wind gebeugt und stumm wie sie, wenig später überholte sie selbst eine unter ihrem Regenschutz verborgene dunkle Gestalt. Niemand rief mehr «Buen camino».
    Leo bog um die nächste
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