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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens
Autoren: West Morris L.
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Herren in den Garten, Anna. Zu dem Platz, wo Sie die Schwestern haben beten sehen.« Sie wandte sich an Landon: »Es ist der Schwesterngarten. Dort werden Sie nicht von den Insassinnen gestört. Bevor Sie gehen, bringt Anna Sie hierher zum Kaffee.«
    Als sie gegangen war, überreichte Carlo Anna seine Geschenke, und Landon hatte Gelegenheit, sie genau zu betrachten. Sie trug, wie alle Insassinnen, ein graues Baumwollkleid mit langen Ärmeln und einem aufgenähten Gürtel aus dem gleichen Material. Dazu schwarze Schuhe und schwarze Strümpfe. Ihr Haar war kürzer, hochgekämmt und mit einem Band zusammengehalten. Ihre Hände waren unruhig, aber ihr Ausdruck war immer noch von der gleichen Gefaßtheit, die ihm schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war. Nur schien ihm jetzt mehr Leben in den Augen und der Stimme zu liegen. Ihr Benehmen war zurückhaltend und außerordentlich bescheiden, so daß sie mehr wie eine Novizin wirkte als eine Gefangene, die eine Strafe für Mord absaß.
    Entgegen seinen Erwartungen mußte Landon jedoch zugestehen, daß er an ihr nichts als reine Unschuld entdecken konnte. Ihr Wesen verriet nicht die geringste Spur von Sinnlichkeit. Anna nannte Rienzi jetzt zwar beim Vornamen, doch hätte auch der mißtrauischste Beobachter an der Art, wie sie es tat, nichts aussetzen können.
    Anna führte dann die beiden Männer in den Garten und berichtete ihnen über die Einzelheiten des ersten Tages nach der Verhandlung.
    »Alle waren so gut zu mir. In San Gimignano haben sie mir ein besonderes Abendessen gemacht, und die Pflegerinnen durften zu mir kommen und mit mir reden. Eine hat mein Haar frisiert, und eine hat mir ein Gebetbuch gebracht. Am nächsten Morgen durfte ich allein im Garten Spazierengehen, und die Frau Direktor hat mir Kaffee bringen lassen. Jeder hat gesagt, was ich für ein Glück gehabt habe und was Sie alles für mich getan haben. Ich war sehr stolz. Hier haben sie mir ein hübsches Zimmer gegeben. Es sind Gitter vor den Fenstern, aber es gibt auch Vorhänge mit Blumen darauf. Und alles ist weiß und sauber. Schwester Eulalia ist mit mir spazierengegangen und hat mir im Gärtnerschuppen ein paar junge Kätzchen gezeigt. Sie hat mir komische Geschichten über die Leute erzählt, die uns begegnet sind. Und heute abend ist ein Konzert mit sehr berühmten Sängern aus Rom –«
    Landons erster Eindruck von ihr war der einer außerordentlichen Schlichtheit und einer völligen Zufriedenheit mit einfachen Dingen, ihm schien sogar, sie sei mit ihrer gegenwärtigen Existenzform einverstanden. Doch als Carlo sich erkundigte, was sie gelesen habe und was ihre Lieblingsbeschäftigungen seien, bemerkte Landon doch eine lebendige, wenn auch begrenzte Intelligenz und ein normales Urteilsvermögen.
    Zum erstenmal zeigte sie auch Interesse für ihre Zukunft. Sie hatte einmal eine Modenschau gesehen und meinte, ob sie nicht später vielleicht Mannequin werden könnte. Falls sich das nicht verwirklichen ließe, wollte sie Stenotypistin werden und erkundigte sich, ob hier schon die Möglichkeit bestehe, Unterricht zu nehmen.
    Carlo besprach das alles mit ihr, vermied es jedoch, irgendwelche Erinnerungen wachzurufen. Er machte Scherze und Witzchen und lachte über ihre Antworten. Dennoch schien es Landon, als sei etwas Entscheidendes nicht in Ordnung. Beide waren ihm zu nüchtern, zu ruhig. Nichts schien Carlos verzweifelte Hoffnung zu rechtfertigen, nichts aber auch seine eigenen Befürchtungen zu bestätigen. Landon konnte auch nicht glauben, daß die beiden ihm Theater vorspielten. Rienzi war dafür ein zu schlechter Schauspieler, und Anna hatte niemand auf eine Täuschungskomödie dieser Art vorbereitet.
    Doch bald erkannte er, daß das hier nur eine Art Vorspiel war, das sie brauchten, da sie von Natur, Erziehung und Erfahrung her Gegenpole waren. Das Mädchen hielt jedoch die Disziplin der Anstalt zurück, und Carlo würde sich sicher hüten, eine Unvorsichtigkeit zu begehen.
    Der Schwesterngarten war von einer niedrigen Mauer umgeben, ein Kricketrasen lag inmitten von Büschen und dahinter, noch verschwiegener, befand sich ein tiefergelegener Garten mit einem kleinen Fischweiher und einem Schrein mit der Figur einer Heiligen.
    »Hier«, sagte Anna plötzlich, »hier spüre ich zum erstenmal, daß ich frei bin. Nicht so wie früher, sondern so, wie ich es eines Tages sein werde.«
    Sie blickte über den Garten, über die Spitzen der Zypressen in den blassen Himmel, an dem ein einsamer Falke
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