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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens
Autoren: West Morris L.
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ein einziges Mal wie eine Frau fühlen.«
    Landon wollte schreien: Nein, tu's nicht! – aber Scham hielt ihn zurück. Im nächsten Augenblick lag sie in Rienzis Armen, und sie küßten einander leidenschaftlich, ohne daran zu denken, daß jede zufällig vorbeikommende Nonne ihre Entdeckung bedeutet hätte. Dann, ohne jeden Übergang, geschah es. Mit einem kraftvollen Stoß schob Anna Carlo von sich. Ihr Gesicht war eine haßvoll verzerrte Maske, Entsetzen stand darin, und während Carlo sie anstarrte, schrie sie hysterisch auf: »Sie bringen sie um – sie bringen sie um!«
    Im nächsten Augenblick sprang sie mit vorgestreckten Händen auf ihn zu, fuhr ihm mit ihren Fingernägeln mehrere Male durch das Gesicht und schrie:
    »Du warst es! Du hast sie umgebracht! Du – du!« Landon und Rienzi brauchten ihre ganze Kraft, sie zum Hospiz zurückzubringen, wo vier kräftige Nonnen ihr eine Zwangsjacke anlegten und sie fortschafften. Die Oberin musterte die beiden mit zweifelnden Blicken – dann rief sie eine Schwester, die Carlos zerkratztes Gesicht verband.

9
    In dem düsteren Empfangsraum, wo Carlos Geschenke immer noch auf einem Stuhl lagen, stellte ihnen die kleine graue Nonne zehn Minuten später die sachliche Frage:
    »Also, meine Herren, wie ist das passiert?«
    Carlo Rienzi war ein beredter Anwalt, aber jetzt stand er gleichsam unter Anklage und brauchte einen Verteidiger. Bevor er antworten konnte, beeilte sich Landon zu erklären:
    »Ich glaube, Frau Oberin, ich habe das wahrscheinlich besser gesehen als Herr Rienzi. Wir standen alle drei zusammen im Garten und Herr Rienzi verabschiedete sich eben von Anna. Sie schien vollkommen normal, doch als Herr Rienzi die Hand ausstreckte, schlang sie plötzlich die Arme um seinen Hals und versuchte, ihn zu küssen. Er schob sie sanft von sich und sagte ihr, sie solle nicht so albern sein. Da fing sie plötzlich an zu schreien, er sei es gewesen, der ihre Mutter umgebracht habe. Unmittelbar darauf stürzte sie sich auf ihn und zerkratzte ihm das Gesicht.«
    Landon hoffte verzweifelt, seine Geschichte möge so überzeugend klingen, wie er sie zu erzählen versuchte. Denn in diesem Augenblick hingen Leben und Tod des Advokaten Rienzi von dieser klugen grauen Nonne ab, und Landon zweifelte nicht, daß sie ihn gnadenlos preisgeben würde, wenn sie die Wahrheit auch nur ahnte. Er fügte also zur Abrundung noch eine fachliche Erklärung hinzu: »Das ist eine tragische Angelegenheit, aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bin ich nicht allzu überrascht. Sowohl Professor Galuzzi als auch ich haben uns ernsthafte Sorgen wegen gewisser labiler Elemente im Fall dieses Mädchens gemacht. Ich weiß, daß Professor Galuzzi hoffte, diese noch deutlicher zu fixieren. Wenn Sie gestatten, würde ich ihn gern gleich von hier aus anrufen.«
    Die Oberin musterte ihn reserviert und wandte sich dann, anscheinend zufriedengestellt, an Rienzi.
    »Herr Rienzi, könnten Sie Herrn Landons Bericht über die Geschehnisse bestätigen?«
    Trotz seiner Erschütterung war Rienzi doch noch Anwalt genug, um zu wissen, daß eine halbe Lüge schlimmer ist als eine ganze. Seine Antwort klang überzeugend: »Genauso war es.«
    Die Oberin nickte und sagte dann:
    »Ich fürchte, das ist noch nicht das Ende. Sie wissen beide, daß die Fälle, die uns von den Gerichten überwiesen werden, dem Staat unterstehen. Alles, was im Zusammenhang mit ihnen geschieht, muß zu Protokoll genommen werden. Ich werde von ihnen beiden also einen schriftlichen Bericht in vierfacher Ausfertigung brauchen. Jeder notariell beglaubigt.« Sie mußte von der Wahrheit überzeugt sein, dachte Landon. Die ehrwürdige Schwester würde es sicher nicht über sich bringen, jemanden zu einem Meineid zu veranlassen.
    Carlo Rienzi murmelte ein paar Worte des Bedauerns, aber die Oberin winkte ab. Sie hatte keine Zeit für Klagen. Ihr Beruf war die Sorge für kranke Gemüter, und Anna Albertini war zu krank, um je wieder gesund werden zu können. Sie führte Landon einen leeren, hallenden Korridor entlang in ihr Büro und rief Professor Galuzzi an.
    Mit klarer Stimme berichtete sie ihm, was geschehen war. Dann reichte sie Landon den Hörer. Mit Erleichterung vernahm er Galuzzis trockene Stimme am anderen Ende der Leitung:
    »Da ist es also früher passiert, als wir erwarteten, mein Freund, wie? Na, vielleicht ist es so das Beste – für alle. Die Oberin sagt mir, Sie wären dabeigewesen und hätten alles gesehen?«
    »Das
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