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Titan 11

Titan 11

Titel: Titan 11
Autoren: Ben Bova , Wolfgang Jeschke
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Töne dabei, aber bestimmt waren es weder Töne noch Bewegungen, die Oliver wahrnahm.
    Es war ein Kunstwerk, für das Oliver keinen Namen fand. Es übertraf alle Kunstformen, die er kannte, verschmolz sie, und diese Mischung war so subtil, daß Oliver sie nicht einordnen konnte. Es stellte den Versuch eines begnadeten Komponisten dar, die grundlegenden Aspekte aller bisherigen menschlichen Erfahrungen zu etwas zu verweben, das in wenigen Augenblicken gleichzeitig an alle Sinne vermittelt werden konnte.
    Die sich ständig verändernden Visionen auf dem Schirm waren keine Bilder im Sinne des Wortes, sondern Hinweise auf Bilder, subtil ausgewählte Umrisse, die am Verstand zupften und mit einer einzigen winzigen Berührung ganze Saiten des Gedächtnisses zum Klingen brachten. Vielleicht reagierte jeder Zuschauer unterschiedlich, da es das Auge und der Verstand des Zuschauers war, in dem die Wahrheit des Bildes lag. Keine zwei Menschen würden sich des gleichen symphonischen Panoramas bewußtwerden, und doch würde jeder die grundsätzlich gleiche schreckliche Geschichte sich enthüllen sehen.
    Jeder einzelne Sinn wurde von diesem gewandten, gnadenlosen Genius angesprochen. Farben, Formen und Bewegungen flackerten über den Schirm, gaben versteckte Hinweise, erweckten unerträgliche Erinnerungen, die tief im Unterbewußtsein verborgen lagen; Gerüche gingen davon aus und berührten das Herz des Zuschauers tiefer, als irgendein Abbild es hätte tun können. Eine Gänsehaut wurde erzeugt, als ob eine schrecklich kalte Hand darauf läge. Die Zunge zog sich zusammen, während sie sich an Bitternis und Süße erinnerte.
    Es war abscheulich. Der Effekt brachte die tiefsten ureigensten Erinnerungen eines Menschen zum Vorschein, rief verborgene Dinge hervor, die schon lange hinter mentaler Watte verborgen lagen, zwängten dem Zuschauer ihre schrecklichen Botschaften auf, bis der Verstand unter der Anspannung zusammenzubrechen drohte.
    Und doch wußte Oliver trotz jenes lebhaften Bewußtwerdens nicht, welches Unglück der Bildschirm eigentlich darstellte. Daß es real, gewaltig und überwältigend schrecklich war, konnte er nicht bezweifeln. Daß es schon einmal geschehen war, stand außer Frage. Er nahm aufblitzende Bilder menschlicher Gesichter wahr, verzerrt von Gram, entstellt von Krankheit und Tod – wirkliche Gesichter, Gesichter von Menschen, die einst gelebt hatten und die er nun im Moment ihres Todes erblickte. Er sah ein Panorama von Männern und Frauen in reicher Kleidung, die von zu Tausenden zählenden Volksmassen niedergerungen wurden, riesige Scharen, die von einem Moment zum anderen heranfluteten, und er erkannte, daß der Tod keinen Unterschied zwischen ihnen machte.
    Er sah liebliche Frauen lachen und ihre Locken schütteln, und das Lachen wurde zur Hysterie und die Hysterie zur Musik. Immer wieder tauchte das Gesicht eines bestimmten Mannes auf, ein schmales, düsteres, melancholisches Gesicht, von Sorgenfalten tief gekerbt, das Gesicht eines mächtigen Mannes, weltmännisch, gebildet – und hilflos. Dieses Antlitz blieb das beherrschende Motiv, kehrte immer gequälter, immer hilfloser als zuvor zurück.
    Inmitten einer ansteigenden Melodie brach die Musik ab. Der Nebel löste sich auf, und der Raum erschien wieder vor ihm. Für einen Moment schien das gequälte düstere Gesicht überall zu haften wo auch immer Oliver hinschaute, wie ein Nachbild der Sonne auf der Netzhaut. Er kannte dieses Gesicht. Er hatte es schon zuvor gesehen, zwar nicht oft, doch er sollte sich an den dazugehörigen Namen erinnern können…
    »Oliver, Oliver…«, Klephs helle Stimme erklang aus einem Nebel vor ihm. Er lehnte sich benommen gegen einen Türpfeiler und schaute hinab in ihre Augen. Auch ihr Gesicht wies jene verworrene Leere auf, die sich auch auf seinem zeigen mußte. Die Macht dieser schrecklichen Symphonie hielt sie beide noch gepackt. Doch sogar in diesem verwirrenden Augenblick erkannte Oliver, daß Kleph jene Erfahrung genossen hatte.
    Er fühlte sich bis in die tiefsten Gründe seines Verstandes krank, betäubt vom Ekel und Ablehnung der niederdrückenden menschlichen Schicksale, deren Zeuge er gerade geworden war. Doch bei Kleph zeigte sich nur eine gewisse – Würdigung auf ihren Zügen. Dieses Erlebnis war großartig für sie gewesen, einfach großartig und sonst nichts.
    Beiläufig erinnerte sich Oliver an die ekelhaften Süßigkeiten, die sie genossen hatte, an die abscheulichen Gerüche der seltsamen
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